Ich lebe schon immer in der Gegend. Zuerst in der Pappelallee, mit drei Jahren sind wir dann in die Rheinsberger Straße gezogen. Und seit 1947 wohne ich nun immer im selben Haus in der Brunnenstraße. In meiner Kindheit, da erinnere ich mich, da war was los in der Brunnenstraße. Ein Geschäft am anderen war da und an jeder Ecke eine Kneipe. Fleischer Helfer, Fleischer Stein, Bäcker Heilmann, das Lebensmittelgeschäft »Zu den drei Sternen«, da haben wir immer gekauft. Die Straßenbahn fuhr durch die Straße. Eine Straßenbahnlinie gab es da, mit der durfte man nicht fahren. Die führte nämlich von Herzberge nach Wittenau, also von einer Klapse zur anderen. Wenn man da beim Ein- oder Aussteigen beobachtet wurde, war man das Gespött der anderen.

Einen Unterschied zwischen der Brunnenstraße in Mitte und Wedding gab es bis zum Ende des Krieges nicht. Es war eine Geschäftsstraße mit vielen Läden. Hier wohnten die besseren Leute. Die Arbeiter wohnten eher in den Seitenstraßen.
Während des Krieges fiel die erste Bombe 1943 in der Gormannstraße. Die rechte Seite der Brunnenstraße nördlich der Bernauer Straße ist völlig ausgebrannt. Noch tagelang lagen verbrannte Leichen von Menschen und Pferden herum.
Die Brunnenstraße wurde in dieser Gegend so stark bombardiert, weil auf dem Humboldthain die Flak stand, darunter war der Bunker und darüber die Flak. Die Russen kamen gegen Ende des Krieges von der Stadtmitte. In der Rheinsberger, wo heute »Wand und Boden« ist, war ein großer Tiefbunker – zwei Stockwerke tief unter der Erde. Darüber war ein Wochenmarkt. Über die Brunnenstraße und über die Rheinsberger konnte man in den Bunker gelangen, da sind alle hingegangen. Wir auch, viele hundert Menschen waren da. Am 28. April 1945 ging in der Anklamer/Ecke Fehrbelliner Straße eine Luftmine runter, dabei habe ich mir eine Knieverletzung zugezogen.

Eine Woche zuvor kam ohne Vorwarnung eine riesige Luftmine Brunnen/ Ecke Bernauer Straße runter, da hat alles gewackelt und vieles ist durcheinander geflogen, Wände sind eingebrochen. Die Menschen gerieten in absolute Panik. Am Eingang unseres Bunkers sind 53 Menschen tot getrampelt worden, weil es keine Vorwarnung gab.
Ich war 16 Jahre alt, alle waren in Panik, weinten, schrien. Unser Doppelstockbett stürzte durch die Erschütterung bei der Explosion der Mine zusammen. Ich weiß nicht warum, aber ich habe angefangen zu singen, einfach zu singen. Ich habe alles gesungen, vom Schlager bis zum Volkslied. Lieder von Johannes Heesters. Und das hat beruhigt, die anderen wurden ruhiger. Einige haben auch mitgesungen.

Nach dem Krieg, am 2. Mai 1945 meinte meine Mutter zu mir: »Heute kannst du raus. Die Sonne scheint so schön und der Krieg ist vorbei.« Als ich aus dem Bunker raus am, war das erste, was ich gesehen habe, ein Russe. Er zeigte auf mein verbundenes Bein – ich war ja auf Krücken – und fragte: »Russki?« Ich nickte und er schenkte mir darauf hin ein Stück Brot. Also bei uns im Bunker ist nichts passiert, aber auf dem Zionskirchplatz, da haben sie die Frauen vergewaltigt. An meiner Knieverletzung war schlecht, dass ich nicht mit plündern gehen konnte. Aber die anderen haben mir dann schon immer mal was mitgebracht.

Kurz nach dem Krieg habe ich gesehen, wie vom Stettiner Bahnhof, der jetzt Nordbahnhof heißt, ein ganzer Trupp deutscher Soldaten kam, in Dreierreihen. Man hatte ihnen die Schulterstücke runtergerissen. Da hab ich so geheult, so elend sahen die aus. Ich konnte auch lange das Lied »Lilli Marleen« nicht hören.
Wir mussten dann aus der Wohnung in der Rheinsberger Straße ausziehen, weil in den Block Bernauer, Brunnen-, Rheinsberger und Strelitzer Straße die russische Kommandantur einziehen sollte. Die blieben aber nur kurz und zogen dann weiter.
Ab 1953 musste man Ausweise zeigen, wenn man in den Westteil wollte, nach dem Aufstand also. Später gab es in der Brunnenstraße in der Höhe Rheinsberger rechts und links kleine Kontrollpunkte, in Läden drin. Da wurden Leute kontrolliert, wenn man vermutete, dass sie was schmuggelten.
Ich arbeitete später, wie meine Mutter, bei Secura, erst neun Jahre als Lackiererin, dann 18 Jahre in der Buchhaltung. Die Fabrik Secura lag versteckt in der Fehrbelliner Straße, mitten im Block zwischen Brunnen- und Veteranenstraße. Dort wurden landwirtschaftliche Maschinen und Geräte, Halbleiter und Gleichrichter hergestellt.

Am 13. August 1961 wollte ich in den Urlaub nach Lindow fahren. Ich brauchte von der Brunnenstraße drei Stunden bis nach Oranienburg. Auf der Straße hatten sie Panzer quergestellt, kurz danach wurden spanische Reiter aufgestellt. Drei Tage danach war die ganze Brunnenstraße ab der Veteranenstraße gesperrt und es ging das Gerücht um, die Grenze sollte runter zur Veteranenstraße verlegt werden.
Die Rheinsberger Straße und damit auch das Haus, in dem meine Mutter wohnte, wurde Grenzgebiet. Ab 1962 brauchte ich einen Passierschein, wenn ich meine Mutter besuchen wollte, der galt dann immer für ein Vierteljahr. In der Mitte der Straße errichtete man einen Zaun. Ab 1963 oder ’64 durfte man dann gar nicht in die Häuser, die eine Seite der Straße wurde zur Grenze erklärt.
Zu dieser Zeit ist mein damals 14-jähriger Sohn mit dem Fahrrad zu seiner Oma gefahren. Sie unterhielten sich, er stand auf der Straße mit dem Fahrrad, sie schaute aus dem Fenster. Dann hatte er plötzlich Durst und ging einfach hoch, um etwas zu trinken. Das sah ein Nachbar und daraufhin wurde gleich die Polizei alarmiert. Man verhaftete meinen Sohn und brachte ihn ins Revier 14 in der Brunnenstraße 27/28. Man warf ihm vor, trotz Hinweisschild »Sie betreten die Region eines fremden Staates« die Oma besucht zu haben. Nur mit Schwierigkeiten konnte ich meinen Jungen noch am selben Tag nach Hause bekommen. Die Geschichte hatte noch ein Nachspiel in der Keibelstraße [Kriminalpolizei] und auf dem Jugendamt, blieb aber letztendlich ohne Folgen.

Frau Schröder, geb. 1929

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