Viehmarkt – Industriekomplex – High-Tech-Zentrum

Zwischen der Voltastraße und dem Humboldthain erstreckt sich heute ein Betriebsgelände, dem man seine Vergangenheit als Industriekomplex noch ansieht. Viele Jahrzehnte befand sich hier das Werk der AEG. Doch die Anfänge liegen viel, viel weiter zurück, nämlich vor über 400 Jahren. Das folgende Kapitel (teilweise schon vom Weddinger Heimatforscher Bruno Stephan geschrieben) beschreibt die Entwicklung dieses Geländes.

Wer heute alte Pläne der nördlichen Brunnenstraße betrachtet, findet auf ihnen westlich der Straße ein großes Viereck, auf dem sich Gebäude an Gebäude reiht. Heute ist von ihm kaum noch eine Spur vorhanden. Über die Bedeutung der großen Anlage steht im Plan von 1872 »Neuer Viehhof«, bzw. »Berliner Viehmarkt«. In der Karte des Goldschmidt-Führers durch Berlin von 1889 ist schon »Ehemaliger Viehmarkt« zu lesen und nördlich davon »Berliner Lagerhof«.

Wir wollen der Entwicklung nachspüren und stoßen erstmal auf Ostern 1591: Damals wurde angeordnet, dass alles Vieh nur noch in öffentlichen Schlachthäusern gekillt werden dürfe. Und was war nicht alles auszusondern: »Unreines, packiges, ambrüchtiges, untüchtiges, trächtiges, wirwelsüchtiges, wolfsbeißiges, räudiges, finnichtes, grellsichtiges, und tadelhaftiges Vieh«. Die Behörde hatte also ein scharfes Auge darauf, dass die Bevölkerung gutes Fleisch erhalte. Um die gleiche Zeit hört man vom ältesten bekannten Berliner Viehhof. Er lag an der Jägerstraße in Mitte. Viehhandel und Schlächterei gehen nun aber mit schlechten Gerüchen einher, so dass man den Viehhandel zum späteren Alexanderplatz verlegte, der dann erst einmal Wollplatz hieß, was mit dem Vieh zusammenhing.
Im Jahre 1661 wurde ein Schlachthaus an der Schlachtgasse über der Spree erwähnt, das sogar bei späterem schärferem Schlachtzwang 1787 erneuert wurde und sich bis 1842 hielt. Durch die Einführung der Gewerbefreiheit 1810 entstanden drei weitere Schlachthöfe, an der Paddengasse, der Waisenbrücke und der Fischerstraße. Doch je mehr Höfe, desto schlechter die Kontrolle, was natürlich die Bürokratie wurmte, die nach Abhilfe sann.
1821 kam am Büschingplatz auch noch der Klägersche Viehhof dazu, der sich zwar zu einer Berliner Sehenswürdigkeit mauserte, aber ebenfalls zu Klagen Anlass gab. 1871 brach dort die Rinderpest aus, der Hof musste zeitweise geschlossen werden. Zu den Konsequenzen gleich mehr.

Nun kam erst einmal Dr. Bethel Henry Strousberg ins Spiel. Er war ein Unternehmertalent. Als Zeitungsbesitzer erwarb er sich ein Vermögen und sattelte mit seiner Ankunft in Berlin 1855 um auf Eisenbahn: Das heißt, er kümmerte sich um alles, er lieferte seinen Kunden die fertige Bahn. Von der Streckenplanung über die Behörden-Genehmigungen bis zum Bau lag alles in einer Hand. Viele wichtige Strecken waren sein Werk, wie die nach Sachsen oder Ostpreußen. Er baute aber auch in Ungarn und Rumänien; und er plante sogar den Nord-Ostsee-Kanal.
Zur selben Zeit wollte sich Strousberg auch auf dem Sektor des Viehhandels versuchen, er spürte, dass in Berlin damals damit Geld zu machen war. Da er wie gehabt alles in einer Hand hatte, ging es relativ schnell. Eines Tages hatte er auch das Grundstück an der Brunnenstraße in eben dieser Hand. Die »Berlinische Commandit Gesellschaft«, deren Haupt er war, ging an die Arbeit. Baumeister war August Orth, dem wir auch die Zions- und manche andere Kirche verdanken, die jedoch den letzten Krieg nicht überlebt haben. Strousberg ließ nicht nur Viehhallen errichten, sondern auch Schlachthäuser.
1867 wurde gegründet, 1868-70 gebaut. Im Mittelpunkt entstand ein Börsengebäude mit Restaurant. Überragt wurde die Anlage von einem Wasserturm. Als der Bau stand, übergab ihn Strousberg an die »Berliner Viehmarkt AG«. Genau zu dieser Zeit wurde der Klägersche Viehhof wegen der Rinderseuche geschlossen und so kehrte auf das Gelände in der Brunnenstraße das pralle Leben ein.

Der Lehrer Richard Ilnitzky, der 1871 auf den Viehhof geboren wurde und dessen einarmiger Vater dort Buchhalter war, erzählte 1931 in der »Berliner Morgenpost« anschaulich vom damaligen Treiben. In seinen Jugendjahren war die Brunnenstraße noch eine Chaussee mit hohen Baumreihen, beiderseits von tiefen Gräben eingefasst. Das Vieh kam auf einem Anschlussgleis, das verzweigt zu den verschiedenen Ställen führte. Über die Straßen hergetrieben wurde das Vieh nur noch selten, auch wenn man heute im Gesundbrunnen noch manchmal die Geschichte vom entlaufenen Stier hört. Lautes Treiben herrschte im Börsenrestaurant, der dortige Wirt war eine wichtige Persönlichkeit. Im Norden des Geländes befand sich der Wollmarkt.

Doch die ganze Viehmarktherrlichkeit war nur eine kurze Episode, denn schon im März 1868 war ein Gesetz erlassen worden, das den Gemeinden die Befugnis gab, Schlachtzwang und Fleischuntersuchung amtlich einzuführen. Dies war eine Konsequenz aus mehreren Epidemien, die in einem Fall mehr als hundert Todesopfer forderten. Um eine gute Qualität des Fleisches garantieren zu können, beschloss die Stadt, den Strousbergschen Viehhof aufzukaufen. Doch die Viehmarkt-Gesellschaft forderte einen zu hohen Preis, so dass der Plan scheiterte. Stattdessen wurde nun der Bau eines städtischen »Zentral-Vieh- und Schlachthofes« beschlossen und begonnen. Dieser Viehhof, auf dem Gelände zwischen der heutigen Eldenaer und Storkower Straße gelegen, konnte 1881 in Betrieb genommen werden, zwei Jahre später wurde der Schlachtzwang eingeführt. Das war nach nur elf Jahren Betrieb das Ende des Viehhofs an der Brunnenstraße.

Das riesige Gelände verfiel in die Nutzlosigkeit. Der folgende Lagerhof war nur eine Übergangslösung. Einen Teil der alten Ställe nutzte die »Allgemeine Berliner Omnibus Actien Gesellschaft« als Pferdeställe. Zu jedem Omnibus gehörten fünf Bespannungen, die durchschnittlich je drei Stunden Dienst taten. Ursprünglich liefen vor den 16-plätzigen einfachen bzw. 30-plätzigen Doppelstockwagen dänische und belgische Gäule. Ab 1905 verwandte man dann die billigeren Russen. Ina Seidel schrieb, wie ihr der Hufschlag pflastermüder Omnibusgäule, die ihre letzten Wagen in das Depot zurückschleppten, aus ihrer Zeit in der Bernauer Straße in Erinnerung blieb.
Das Viehhofgelände wurde nun in kleinere Blöcke aufgeteilt, es wurden neue Wohnhäuser gebaut. Dort wo Pferde-Omnibusse untergebracht waren, kamen bald die ersten Benzinbusse unter. Später mussten sie dann in die Jasmunder und Usedomer Straße ausweichen. Doch die nächsten hundert Jahre des ehemaligen Viehhof-Geländes waren, gar nicht weit entfernt, schon in die Wege geleitet.

Ein Industriekomplex entsteht

Die Gründung und der Aufstieg der AEG sind vor allem das Werk des Berliner Ingenieurs und Unternehmers Emil Rathenau. Seine ersten Erfahrungen im Maschinenbau sammelte er nach dem Studium in England, danach übernahm er zusammen mit einem Freund eine Maschinenfabrik in Berlin. Rund um die Chausseestraße entstanden viele Maschinenbaufirmen wie die von Borsig, Wöhlert, Egells oder Schwartzkopff, und auch Rathenaus erstes eigenes Projekt, »die Maschinenfabrik M. Webers« befand sich dort. Sie produzierten dort »so ziemlich alles, was sich aus Eisen herstellen ließ«. Als er sich 1875 auszahlen ließ, hatte er nach eigenen Angaben »die erste Phase geschäftlicher Tätigkeit abgeschlossen« – und war um eine 3/4 Million reicher.

Rathenau erkannte bald, dass zukünftige Renditen eher in der aufkeimenden Elektrobranche als im Maschinenbau zu erzielen seien. Vor allem die Erfindung der Glühlampe machte deutlich, dass es sich bei der Elektroindustrie um einen Bereich handelt, mit dem in Zukunft Geld zu verdienen sei. So begann Rathenau 1884 mit der Produktion von Glühlampen, zuerst noch in der Schlegelstraße, also gleich um die Ecke der Chausseestraße. Seine Firma, die Deutsche Edison-Gesellschaft, war jedoch nur ein Übergang, schon drei Jahre später sollten weitere Produktionszweige dazukommen.
Am 23. Mai 1887 wurde der Betrieb in »Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft« umbenannt. Mit dem neuen Namen wurde darauf hingewiesen, dass man sich nun auf alle Bereiche der Elektroindustrie ausbreitete. Noch im selben Jahr übernahm die AEG zudem die Verwaltung der Berliner Elektricitätswerke (BEW).

Durch die Ausweitung der Produktpalette reichte das Gebäude in der Schlegelstraße nicht mehr aus. Seit 1888 entstand deshalb auf dem aufgekauften Grundstück der »Maschinenbau-Anstalt W. Wedding« in der Ackerstraße 76 ein komplett neues Werk. Der gesamte Block zwischen Acker-, Feld-, Hussiten- und Hermsdorfer Straße (heute Max-Urich-Straße) wurde abgerissen und nach Plänen von Paul Tropp und Franz Schwechten neu errichtet. In der Hochzeit der AEG arbeiteten in diesem Werk später in mehreren Schichten bis zu 9.200 Menschen!
Neben Glühlampen wurden hier vor allem Elektromotoren hergestellt, ein Schwerpunkt waren Motoren für die neu entstehenden elektrischen Straßenbahnen. Später wurde es die Apparatefabrik.
Trotz der Größe wurde das Werk Ackerstraße für die AEG schnell zu klein. Rathenau suchte ein Erweiterungsgelände und fand es direkt angrenzend zwischen der Hussiten- und der Brunnenstraße. Auf dem ehemaligen Schlachthof-Gelände war neben einem Busdepot die »Berliner Lagerhof AG« untergebracht, die auch den noch vorhandenen Gleisanschluss nutzte. Er ist übrigens bis heute noch vorhanden, wenn auch nicht mehr in Betrieb. Ausgehend vom Bahnhof Gesundbrunnen zog sich ein Schienenstrang auf das Gelände, und die Lagerhof AG errichtete dort einen eigenen kleinen Güterbahnhof namens »Lagerhof bei Gesundbrunnen«. Damit war das Grundstück an das Fernbahnnetz angeschlossen.

Die AEG kaufte fast das gesamte Gelände zwischen der Hussiten- und Brunnenstraße. Nur an der Volta- und der Hussitenstraße blieben (vorerst) einige neu gebaute Wohnhäuser in fremdem Besitz.
Hier sollten nun große Hallen und der Großteil der Produktionsstätten entstehen. Die gerade erst wenige Jahre alte Bebauung wurde nach und nach abgerissen, die neu geschaffenen Blöcke wieder zusammengelegt, und so entstand das Gelände erneut in der ursprünglichen Größe.

Die AEG-Fabriken Brunnenstraße wurden anfangs unter der Leitung von Tropp und Schwechten errichtet. Hier wuchs eine wahre Fabrikstadt, die für Außenstehende unübersichtlich und einschüchternd wirkte. Innerhalb weniger Jahre entstanden: die Großmaschinenfabrik, (Alte) Fabrik für Bahnmaterial, Fabrik für Hochspannungsmaterial, Kleinmotorenfabrik, Neue Fabrik für Bahnmaterial und die Montagehalle für Großmaschinen. Die AEG konnte damit die gesamte Produktpalette – vom kleinsten Schalter bis zum riesigen Dynamo – im Wedding produzieren.

1895 wurde eine unterirdische Verbindung zwischen den beiden Werken angelegt. Der Tunnel machte es möglich, mittels einer elektrisch betriebenen Bahn Materialien und Arbeiter von einer Fabrik zur anderen zu transportieren. Diese Bahn hatte Modellcharakter und gilt als erste U-Bahn Berlins. Eine AEG-Zeitung notierte: »Diese Bahn hat sich in der Folge vorzüglich bewährt. Der Tunnel in einer Länge von 270 Metern hat elliptischen Querschnitt von 2,6 Metern Breite und 3,15 Metern Höhe. Die Tunnelsohle liegt 6,5 Meter unter der Straße. Zur Beförderung von Personen und Lasten dient eine elektrische Lokomotive.«Mit angehängten Güterloren für den Materialtransport erreichte die Bahn immerhin eine Geschwindigkeit von 30 km/h. Später wurde der Verkehr eingestellt, und gegen Ende des Zweiten Weltkriegs fungierte der Tunnel als Lager für Konstruktionsunterlagen. In den 50er und 60er-Jahren wurde er dann noch mal als Bahntunnel von kleinen Elektrokarren auf Gummireifen genutzt. Heute ist er zwar noch vorhanden, aber nicht mehr zugänglich.Ein Jahr später entstand an der Brunnenstraße das »Beamtentor« als repräsentativer Eingang zum Werkgelände. Die Mehrzahl der Beschäftigen – die Arbeiter – durften es jedoch nicht benutzen, sie mussten das Werk von der Gustav-Meyer-Allee und der Voltastraße aus betreten. Das Tor wurde von Franz Schwechten entworfen, darauf ist auch das alte Firmensignet angebracht: Auf goldenem Grund ein Fries aus Glühbirnen. Um 1900 wurde »Elektra«, die »Göttin des Lichts«, zum AEG-Firmensignet. Heute ist dieser Eingang das Letzte, was von der Brunnenstraße aus gesehen noch an die AEG erinnert.

Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde auch das neue Gelände zu klein, nachdem 1896 in der Voltastraße der Bau von Lokomotiven begonnen hatte, einer mittlerweile eher untypischen Produktsparte, die später auch wieder aufgegeben wurde. Aufgrund der Platzprobleme verlegte die AEG einen Teil der Fertigung an die Spree nach Oberschöneweide. Durch den gestiegenen Bedarf an Elektroleitungen musste auch dieser Produktionszweig ausgebaut werden, und so entstand das Kabelwerk Oberspree. Auf der Weltausstellung 1900 in Paris präsentierte der Konzern seine Weddinger Fabrikanlagen in zahlreichen Fotografien, und selbst die englische Konkurrenz sprach bei den Fabrikationsstätten der AEG von dem »größten, besteingerichteten und wissenschaftlich am vorzüglichsten organisierten Werke«.Zu diesem Zeitpunkt waren jedoch viele der heute stehenden Gebäude noch gar nicht errichtet, der Komplex wurde noch Jahrzehnte lang erweitert. Im Mai 1908 begann der zweite Bauabschnitt der (Alten) Fabrik für Bahnmaterial, in dem westlichen Mittelflügel wurden ab 1909 Motoren für Lokomotiven, Aufzüge, Kräne usw. hergestellt, sowie allerlei weitere für den Bahnbetrieb erforderliche Metall- und Elektroprodukte.

Man muss sich das AEG-Gelände zu diesem Zeitpunkt wie einen Flickenteppich vorstellen: Die Großmaschinenhalle begrenzte es nach Norden hin, auch einige kleinere Gebäude standen dort an der Grünfläche. An der Ecke zur Brunnenstraße stand ein Werkgebäude, daran schloss sich das Beamtentor an. Von dort bis zur Ecke Voltastraße und auch in der Voltastraße selbst standen noch die Wohnhäuser aus den 1880er-Jahren. An manchen Stellen waren sie bereits abgebrochen worden, dorthin baute die AEG einzelne Abteilungen wie das Kleinmotorenwerk. Etwa auf der Hälfte der Voltastraße war der Zugang zum Güterbahnhof »Lagerhof am Gesundbrunnen«, der sich ja noch mitten auf dem Gelände befand. An diesen Eingang schlossen sich die Metallgießerei und die Stanzerei an. Dann kamen wieder Wohnhäuser, die sich um die Ecke in der Hussitenstraße fortsetzten, fast bis zur Gustav-Meyer-Allee hin. In der Zeit zwischen 1908 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs veränderte sich das Gesicht des Werkgeländes auffällig. Wurden in der Anfangsphase nur die gerade benötigten Teile des Areals genutzt, ist zur Jahrhundertwende jeder Quadratmeter verplant gewesen. Da das aber nicht reichte, wurden niedrige Gebäude aufgestockt oder durch vier- bis sechsstöckige Fabrikgebäude ersetzt.

Der nördlich gelegene Teil des Geländes war durch einen breiten Grünstreifen von der Gustav-Meyer-Allee und dem Humboldthain getrennt. Um mehr Platz für das Fabrikgelände zu erhalten, verengte man die Straße, der Grünstreifen wurde dem AEG-Komplex geopfert. Das an der Ecke zur Brunnenstraße gelegene Grundstück gehörte dem städtischen Gartenbauamt, das es an die AEG vermietete. Dort wurde eine große Halle errichtet, ursprünglich als Lagerhalle geplant, dann aber als Versammlungsraum für die Belegschaft genutzt (später, nach dem Zweiten Weltkrieg, war dort noch jahrelang eine Markthalle untergebracht).
Auch an der Hussitenstraße machte man aufgrund des erhöhten Platzbedarfs nun kurzen Prozess: Acht Wohnhäuser mit insgesamt elf Seitenflügeln wurden geräumt und abgerissen. Statt dessen entstand dort ab 1912 die 180 Meter lange Montagehalle für Großmaschinen von Peter Behrens. Zum ersten Mal wurde im Berliner Industriebau eine Eisenfachwerk-Konstruktion mit einem durchgehenden Glasdach ausgeführt. Der Bau bestimmt bis heute die gesamte Front an der Hussitenstraße.
Entlang der Voltastraße wurde die ebenfalls von Behrens entworfene Kleinmotorenfabrik mit einer 190 Meter langen Straßenfront errichtet. Die Fassade, mit ihrer senkrechten Gliederung mit Halbsäulen und den in großen Abständen gezogenen Pfeilern, entsprach dem Selbstverständnis der neuen Industriemanager. Anders als noch beim Werk in der Ackerstraße wurde hier nicht mehr Herrschaftsstruktur kopiert, sondern der Stolz auf die neue Technik drückte sich jetzt auch in den repräsentativen Gebäuden aus. Zudem erfüllte diese riesige Halle Forderungen an eine völlig neue Produktionstechnik und Fabrikorganisation.

Nicht vergessen werden soll auch noch »Essig-Kühne«. Denn wenn man von der Brunnenstraße aus in die Voltastraße hineingeht, hatte die Firma Kühne beiderseits der Straße ihr Werk. Schon 1722 gründete ein gewisser Johann Daniel Epinius eine kleine Essigbrauerei in Berlin. Nach seinem Tod verkaufte die Witwe den Betrieb 1761 an einen Daniel Teichert, und zwei Generationen später ging er an den Vetter Carl Ernst Wilhelm Kühne. Er gab ihr seinen Namen, der fortan für ein Familienunternehmen stand, das Markengeschichte schrieb. Die »Brauerei« zog etwa 1890 auf das Gelände an der Brunnenstraße, hier wurde die damals modernste Technik eingeführt. Im Krieg wurde der Großteil der Produktionsbetriebe zerstört, trotzdem schaffte es die Firma, sich danach zu einem der wichtigsten Feinkosthersteller hochzuarbeiten.
Nach dem Mauerbau flüchtete auch Kühne, wie viele andere Firmen, aus Berlin. Der Firmensitz wurde nach Hamburg verlegt, doch die Produktionsstätte im Wedding blieb bestehen. Als das AEG-Werk 1983 geschlossen wurde, zog das Kühne-Werk in die einige Kilometer entfernte Provinzstraße nach Reinickendorf, wo es noch heute angesiedelt ist.

Arbeiterbewegung und Krieg

Emil Rathenau, der Gründer der AEG, hatte sich in den USA umgesehen und die Produktionsmethoden von dort übernommen. Massenproduktion, Akkordsystem und rein nach kaufmännischen Prinzipien aufgebaute Arbeitsprozesse wurden übernommen: Den relativ selbstständigen Facharbeiter gab es in diesem System kaum noch, der Anteil von an- und ungelernten Arbeitern erhöhte sich ständig, zunehmend wurden Frauen als Billiglohn-Arbeitskräfte eingestellt. Die AEG wurde zum größten Arbeitgeber im Wedding. Tausende strömten täglich in die Maschinenhallen und Werkstätten. Ab 1926 begann in großem Stil die Fließbandproduktion. Der selbstständig denkende Arbeiter, der den Gesamtzusammenhang seiner Arbeit noch übersieht und sich auch inhaltlich damit auseinandersetzen kann, war mit dieser Produktionsweise verschwunden.

Rationalisierung, Arbeitsentleerung, Ausbeutung, Produktivitätssteigerung waren die Schlagworte, die im entstehenden Widerstand und Protest gegen die Arbeitsbedingungen eine Rolle spielten. Um ihren Interessen mehr Druck zu verleihen, organisierten sich die Beschäftigten im Metallarbeiter-Verband, dem Vorläufer der heutigen IG Metall. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs waren in Berlin allerdings nur 87.000 Mitglieder in diesem Verband organisiert, der für höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten eintrat. Gleichzeitig bildeten sich Zellen der »revolutionären Obleute«. Im Wedding waren die Arbeiter der AEG und von Schwartzkopff führend in dieser Bewegung.
1916 streikten in diesen und einigen anderen Großbetrieben 55.000 Menschen gegen die Verhaftung des Sozialistenführers Karl Liebknecht. Im April 1917 standen dann 319 Betriebe still, 217.000 Arbeiter gingen auf die Straße, um eine bessere Versorgung der Bevölkerung zu erzwingen, aber auch für eine Erklärung der Regierung zur sofortigen Friedensbereitschaft und den Verzicht auf jede offene oder versteckte Annexion. Die AEG war mit der gesamten Belegschaft von 51.800 Menschen am Streik beteiligt. Und am 9. Januar 1919 trafen sich 40.000 Beschäftigte der AEG und von Schwartzkopff im Humboldthain und forderten die »Einigung zwischen Arbeitern aller Richtungen, um dem Blutvergießen ein Ende zu bereiten«.

Bei der AEG haben sich auch einige der härtesten Arbeitskämpfe und politischen Auseinandersetzungen zwischen Nazis und Kommunisten abgespielt. Noch um 1931/32 herum galt die Gegend um den Gesundbrunnen als »roter Wedding« – die Sozialdemokraten und Kommunisten hatte hier eine sichere Basis. Doch diese bröckelte immer mehr, je schlechter es den Menschen wirtschaftlich ging. Die Weltwirtschaftskrise erreichte die Arbeiterschaft der AEG, und bald gab es auch hier Aktivitäten der NSDAP: So wurden im Juli 1929 bei der AEG sowohl in der Brunnenstraße als auch in der Ackerstraße nationalsozialistische Zellen gegründet.
Nach dem Krieg wurde bekannt, dass der damalige Generaldirektor Bücher schon vor 1933 mehrere Zuwendungen zwischen 30.000 und 50.000 Reichsmark an die NSDAP und die SS vornahm. Da ist es nur zu verständlich, dass gleich nach der Machtübernahme der Faschisten mehrere hundert als Kommunisten oder Sozialdemokraten bekannte Arbeiter entlassen wurden.

Mit dem Kriegsbeginn 1939 wurde die AEG zu einem Rüstungsbetrieb erster Wichtigkeit. Schon im Sommer machte die reine Rüstungsproduktion mehr als 50 Prozent des Gesamtumsatzes aus. Doch der Konzern machte sich auch in anderer Hinsicht zum Kriegsverbrecher: Mehrere tausend Kriegsgefangene mussten als Ersatz für die zur Front einberufenen Arbeiter einspringen. In der Dringlichkeits-Ordnung für die Zuweisung von Fremdarbeitern stand die AEG an erster Stelle. Wich das Wehrmachts-Kommando von dieser Regel ab, protestierte die Konzernleitung mit Erfolg: »Die AEG hat bei dieser Aktion eine Anforderung auf 3.800 Arbeitskräfte zu laufen, wovon wir innerhalb der letzten 3 Wochen 2.200 erhalten haben. In den nächsten 14 Tagen ist mit weiteren 1.000 Arbeitskräften zu rechnen. Die für uns vorgesehenen ausländischen Arbeitskräfte wurden anderen Fabriken zugeleitet. Auf Grund unserer Beschwerden werden wir jedoch diese Leute jetzt erhalten.«Direkt neben dem AEG-Gelände wurde im Humboldthain ein Hochbunker errichtet, zu dem es vom Werk aus einen unterirdischen Zugang gegeben haben soll.
Während des Krieges wurde der größere der beiden AEG-Komplexe zu etwa 50% zerstört, auch die Apparatefabrik in der Ackerstraße bekam einige große Treffer ab. Dort wurde der gesamte Ostflügel an der Hussitenstraße vernichtet.

Nach 1945

In der Nachkriegszeit verlegte die AEG wie viele andere Firmen ihren Hauptsitz nach Westdeutschland, Berlin war aufgrund der politischen Situation ein zu unsicheres Pflaster geworden. Trotzdem ging die Produktion in den Weddinger Werken vorerst noch weiter, es wurde sogar angebaut. So errichtete die AEG von 1964 bis 1966 eine sogenannte Größtmaschinenhalle, damals die größte ihrer Art in ganz Europa. Sie maß 175 mal 45 Meter und war 26 Meter hoch. Dort wurden in der Folgezeit Anlagen gebaut (selbst amerikanische Atomkraftwerke zählten zu den Kunden), sowie z.B. ein Dieselgenerator für die Stromversorgung der Stadt Gent mit einem Außendurchmesser von zehn Metern und einem Gewicht von 400 Tonnen.
Doch 1978 kam das erste Aus: Die Fabrik in der Ackerstraße wurde aufgegeben, nachdem die Belegschaft zuvor schon von 4.000 Beschäftigten auf die Hälfte reduziert worden war. Im Zuge der Betriebsstilllegung wurde die Größtmaschinenhalle an der Brunnenstraße wieder abgerissen, und gleichzeitig wurden die verbliebenen 3.000 Arbeiter auf die Straße gesetzt. Das Kapitel AEG in der Brunnenstraße war damit nach mehr als 90 Jahren abgeschlossen.

Nun teilte man das riesige Grundstück wieder auf. Der Computer-Hersteller Nixdorf übernahm 1984 den vorderen Teil und errichtete einen riesigen Neubau für seine Berliner Produktion. In den hinteren Teil zog die Technische Universität, die dort ein »Silicon Wedding« aufbauen wollte. Jungen Technologiefirmen wurden Räume zur Verfügung gestellt, das BIG (»Berliner Innovations- und Gründerzentrum«) sowie der TIP (»Technologie- und Innovationspark«) wurden gegründet. So manche der angesiedelten Firmen ist in der Zwischenzeit wieder pleite gegangen, allen voran Nixdorf mit dem protzigen gläsernen Neubau. Nachdem Siemens die Firma übernommen hatte, wurde das Gebäude an der Brunnenstraße überflüssig.
So übernahm es 1994 die »Bankgesellschaft Berlin«, ein Zusammenschluss der Berliner Bank, der Landesbank Berlin sowie der Berliner Sparkasse. Sie eröffnete hier ihr Dienstleistungszentrum und beschäftigt dort etwa 2.000 Mitarbeiter. Für 250 Millionen Mark bebaute sie außerdem noch die freien Flächen an der Brunnen- und der Voltastraße mit Wohnhäusern, von denen die Hälfte Wohneigentum ist. Das ellipsenförmige Hochhaus an der Ecke zur Gustav-Meyer-Allee beherbergt ebenfalls Büros der Bankgesellschaft.

Unterdessen sind in ein paar Gebäude an der Voltastraße Rundfunksender eingezogen. Der »Offene Kanal« und die Radiosender »Kiss FM« und »94,3 r.s.2« sowie die Berliner Studios der »Deutschen Welle« haben sich hier angesiedelt.
Technologiepark, Computerfirmen, Bankgesellschaft, Radiosender – das ehemalige Gelände der AEG, einst ein Zentrum des Berliner Industrieproletariats, hat sich bis zur Unkenntlichkeit gewandelt. Von der hier einst angesiedelten Arbeitertradition ist nichts mehr übrig geblieben.
Anders die Architektur: Zwar wurde ein großer Teil der ursprünglichen Bebauung abgerissen, vieles steht aber noch. Die Kleinmotorenfabrik und die Fabrik für Bahnmaterialien an der Voltastraße ebenso wie die unter Denkmalschutz stehende Montagehalle für Großmaschinen an der Hussitenstraße oder die Transformatorenfabrik im Blockinneren. Auch die Eisenbahnschienen sind auf der westlichen Hälfte des Geländes größtenteils noch vorhanden. Vom Ostteil ist außer der Kleinmotorenfabrik leider nichts mehr übrig.

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