Kindheit und Jugend im Schatten der Mauer

Einige Monate nach meiner Geburt wurde die Mauer durch Berlin gebaut. Die ersten 28 Jahre meines Lebens gehörte sie wie selbstverständlich dazu, so wie auch die Klagen über sie, die fremd anmutenden Erinnerungen alter Leute, die Beklemmung, wenn man mal mit den Eltern „rüber“ fuhr.

Ich habe meine gesamte Kindheit und Jugend an der Mauer verbracht, wir wohnten in Kreuzberg nur wenige hundert Meter von ihr entfernt, in einer Siedlung, die erst Anfang der 60er Jahre entstanden war. Hier war alles neu, die modernen, offenen Wohnsiedlungen, der riesige Sportplatz, sogar die Straßen waren teilweise neu gezogen worden. Dass dies alles nur deshalb neu war, weil im Krieg hier ein ganzer Quadratkilometer komplett zerbombt worden war, habe ich damals nicht begriffen. Für mich war das alles ganz normal.
Mit meinen Freunden aus der Grundschule bin ich oft ans Ende der Alexandrinenstraße gegangen. Dort endete die Straße im Nichts, bzw. direkt unter der Mauer. Man konnte sehen, dass es hier früher mal weiter gegangen ist, nun aber eben nicht mehr. Merkwürdig war auch, dass die Häuser, die parallel zur Mauer verliefen, nur drei bis vier Meter von ihr entfernt standen, dazwischen ein Bürgersteig und ein schmales Stück der ehemaligen Straße. Es war seltsam, aber als Kind versteht man ja viele Dinge nicht und nimmt sie eben so hin, wie sie sind. Dass es auch viele Erwachsene gab, die das ebenfalls nicht verstanden, wussten wir damals nicht. In unserer Familie war die Teilung der Stadt kein Thema. Jedenfalls hat man uns Kindern das nicht erklärt.
Am Ende der Alexandrinenstraße verlief quer die Stallschreiberstraße. Die lag aber eigentlich schon unter dem Grenzstreifen, der für mich schon immer „Todesstreifen“ hieß. Ich hatte es so gelernt und der Name hatte ja auch was Gruseliges. Am Rand der Stallschreiberstraße war die Mauer und auf dem schmalen Streifen zwischen Mauer und Wohnhäusern standen in regelmäßigen Abständen Bäume. Wenn man auf die Bäume kletterte, konnte man prima hinüber schauen. Das war vor allem spannend, weil es verboten war. Gesehen haben wir nicht viel: Hundert Meter weiter stand wieder eine Mauer, dazwischen war nur Sandfläche und ein Wachturm. Ab und zu fuhr mal ein offener Militärwagen entlang, das wars dann auch schon. Eines Tages allerdings sahen wir zwei Grenzsoldaten. Die hatten Maschinenpistolen umgehängt, das war für uns natürlich eine Sensation. Jetzt bekam auch der Name „Todesstreifen“ einen Sinn. Wurden hier Leute erschossen? Und wenn ja, warum?

Im Alter von etwa elf Jahren wurde es in unserer Clique modern, „Mutproben“ zu machen. Das waren ziemlich sinn- und harmlose Aktionen, manche aber waren doch gefährlich. Vor allem beim Klettern in den wenigen noch vorhandenen Kriegsruinen passierten immer wieder mal kleinere Unfälle. Einmal waren wir in einer ausgebombten Fabrik. Eine Granate muss durch sämtliche Etagen geflogen sein, denn ein großes Loch ging vom Dach bis ins Erdgeschoss. Als wir in der 2. Etage waren, verlangte die Mutprobe, über das 1 bis 1,50 Meter große Loch auf einen Mauervorsprung zu springen, der nur etwa 50 cm breit war. Kein Problem, die Coolness war größer als die Angst, die Männer von der Feuerwehr sagten später, dass wir Glück hatten, dass niemand ums Leben gekommen war. So gab es nur zahlreiche blaue Flecke, Schläge vom Vater und den Stolz, nicht gekniffen zu haben. Auch die Mutprobe auf einem alten Kaufhaus endete glimpflich, als sich das Dach senkte und uns alle ein Stockwerk tiefer beförderte.

Besondern reizte uns natürlich die Mauer. Wohl jeder hatte schon daran gedacht, aber sich nicht getraut, es vorzuschlagen. Irgendwann aber lag es auf dem Tisch: „Wer traut sich, auf der Mauer entlang zu laufen?“ Natürlich wollte niemand einen Rückzieher machen und so kundschafteten wir die Möglichkeiten aus. Es war nicht so schwierig, hinaufzukommen. Die Bäume standen nur etwa 2 Meter entfernt, wenn man ein Brett rüberlegte, sollte es funktionieren. Die Aufgabe war, entlang der Stallschreiberstraße etwa 100 Meter auf der Mauer zu laufen, bis zu einem anderen Baum, über den man dann wieder gut runterklettern konnte.
Diese Mutprobe hatte es in sich. Wir hatten schon einiges hinter uns gebracht und sogar schon erlebt, dass an einem anderen Ort ein Junge ums Leben gekommen war, der genau eine Mutprobe wie wir gemacht hatte. Dort am Görlitzer Ufer ging es darum, über das Skelett einer zerbombten Brücke einen Kanal zu überqueren. Mit einigem Geschick konnte man es schaffen, ansonsten musste man sich vier Meter tief ins Wasser fallen lassen. Dieser Junge aber ist dabei ertrunken. Vielleicht ist er beim Fallen mit dem Kopf an einen der Stahlträger gestoßen und bewusstlos geworden, wir wussten es nicht. Wir wussten nur, dass wir besser waren.
Diesmal aber war die Gefahr anders. Sie war nicht wirklich greifbar, weil wir ja keine Vorstellung hatten, was passieren würde, wenn man auf den Todesstreifen fallen würde. Wird man dann sofort erschossen? Aber warum haben uns die vorübergehenden Erwachsenen dann nicht davon abgehalten? Dieser Todesstreifen war schon mysteriös – und damit genau das Richtige für eine Mutprobe!
Also ging es los, Bretter über den ersten und den letzten Baum und rauf. Normalerweise machten es mehrere gleichzeitig, diesmal waren aber alle von uns auffallend zurückhaltend. Doch ein Zurück gab es nicht mehr. Vorsichtig balancierte ich über das Brett auf die Mauerkrone. Als wir dann zu dritt oder viert oben standen, war das ein tolles Gefühl. Ich habe es geschafft, ich habe mich getraut! Es war ein bisschen wie im Rausch. Dabei achtete ich gar nicht mehr darauf, was am Grenzturm geschah, wo man uns mit Sicherheit schon bemerkt hatte. Außerdem war ja nur der erste Teil der Aktion geschafft, nun lagen noch die hundert Meter bis zum Abstieg vor uns. Langsam tasteten wir uns vorwärts. Wir wussten schon von anderen Gelegenheiten, dass man nur kleine Schritte machen durfte und sich nicht am Vordermann festhalten darf, weil man ihn sonst mitreißen würde. Es ging verdammt langsam vorwärts und als wir etwa die Hälfte der Strecke geschafft hatten, kam der Schock. Plötzlich kamen auf dem Todesstreifen zwei Ost-Jeeps angefahren, gleichzeitig rannten einige Soldaten auf uns zu und schrien etwas, was ich aber in der Aufgeregtheit nicht verstand. Auf der Mauerkrone brach Panik aus, aber was sollten wir tun? Zum Runterspringen waren wir zu hoch, stehenbleiben würde wahrscheinlich sonstwas für eine Strafe bedeuten, also mussten wir weiter. Mit zitternden Knien ging es elend langsam weiter. Dabei feuerten wir uns gegenseitig an, schneller zu laufen. Aber wir waren zu schnell. Als die beiden Militärwagen etwa auf unserer Höhe auf dem Todesstreifen hielten und wir direkt in die Gesichter der Soldaten sahen, die uns anbrüllten, dass wir die Mauer verlassen sollen, gaben wir auf. Wir versuchten uns einzeln auf unserer Seite der Mauer herunter zu lassen, hielten uns mit den Händen fest und ließen uns fallen. Das war zwar ziemlich schmerzhaft, aber wir waren wenigstens gerettet. Einem von uns erging es jedoch schlechter. Er hatte versucht, sich auf eine an der Mauer lehnenden Palette herabzulassen, was aber nicht geklappt hat. Er hat sich nicht nur beide Beine gebrochen, sondern auch einen Fuß – er wurde nie wieder richtig gesund und kann seitdem nicht mehr richtig laufen.

Die Mauer hatte ihren Schrecken nicht verloren, wir nahmen sie jetzt nur anders wahr. „Das Böse“ auf der anderen Seite hatte nun ein Gesicht und für uns war die Mauer von nun ab ein Schutz dagegen. Später zeigten wir unsere Verachtung gegen sie, indem wir mit Farbe alles mögliche auf sie drauf schrieben, besonders gern Beleidigungen. Einmal wurden wir dabei von einer Polizeistreife beobachtet, die uns zur Ausweiskontrolle mitnehmen wollte. Dabei gehörte die Mauer ja gar nicht zu West-Berlin und „unsere“ Polizei hatte gar keine Befugnis, dort einzugreifen. Stattdessen kam zufällig eine der regelmäßigen US-Streifen im Jeep vorbei, die sich gleich erkundigten, was denn los wäre. Die Polizisten erklärten es den Amis und wir verteidigten uns, dass wir nur was gegen die Mauer gemacht hätten und das wäre doch okay. Die Soldaten lachten und wiesen die Polizei offenbar an, uns in Ruhe zu lassen. Dann fuhren sie weiter. Die Polizisten kontrollierten uns nun zwar nicht mehr, verboten uns aber, auf den Streifen direkt an der Mauer zu gehen. Sie stellten sich davor und warteten, bis wir verschwanden.

Auch später war die Mauer für mich noch immer ein normaler Teil meines Lebensumfelds. Ich wohnte dann am Leuschnerdamm, also unmittelbar an der Grenze. Direkt vor dem Haus verlief der Bürgersteig, dann kam auch schon die Mauer, knapp vier Meter hoch und in den 80er Jahren ein Übungsobjekt zahlreicher Künstler, politischer Leute und anderer. Einige Monate nachdem ich mit Freunden in das Haus eingezogen war, gingen nachts plötzlich Sirenen an. Der sowieso immer hell beleuchtete Todesstreifen wurde nun durch zusätzliche Scheinwerfer beleuchtet, auf einmal hörte man dumpfe Geräusche. Es waren Schüsse, die auf zwei Menschen abgegeben wurden, die versucht hatten, hier in der Nähe des Betaniendamms zu fliehen. Beide wurden getroffen, einer blieb regungslos liegen, der andere saß auf dem Boden und schrie wie verrückt. Wir rissen die Fenster auf und brüllten die heraneilenden Grenzsoldaten an. Einer von uns, ein Autonomer, rannte dann mit uns auf das Dach. Das Nebenhaus war noch näher am Geschehen und hatte außerdem ein Flachdach. An schönen Tagen haben wir hier gefrühstückt und uns gesonnt. Der Blick über die Sandwüste war mir vertraut, auch das Gehabe der Grenzler, die immer gleich ihr Fernglas zückten, wenn sie merkten, dass sie beobachtet werden. Diesmal aber war etwas passiert, etwas richtig Schlimmes. Zur DDR hatte ich eh kein gutes Verhältnis, vor allem aufgrund der Schikanen bei Besuchen in Ost-Berlin. Was jetzt aber passiert war, setzte regelrechten Hass in mir frei. Den anderen ging es nicht anders und so waren wir sofort einverstanden, als unser Kumpel sagte, dass wir die Grenzler bestrafen sollten.
Als wir auf dem Dach angekommen waren, wurden die beiden Flüchtlinge gerade mit einem der Armeewagen weggefahren. Es kamen weitere Soldaten, die das Gelände ausleuchteten, absuchten und filmten. Auf dem Dach hatten wir plötzlich einiges an Wurfmaterial, das gehörte wohl zur Grundausstattung eines guten Autonomen. Wir brüllten nach unten: „Mörder“, „Faschisten“ und ähnliches und bewarfen die Sodaten mit Steinen. Sie gingen hinter einem Armeelastwagen in Deckung, der ebenfalls kurz vorher angekommen war. Die meisten Soldaten waren allerdings außerhalb unserer Reichweite, was sie auch schnell merkten. Sie machten in Ruhe weiter. Unser Kumpel aber hatte nicht nur Steine mitgebracht, sondern auch „Molotow-Cocktails“, also mit Benzin gefüllte Flaschen, um die ein brennbarer Stoffstreifen gebunden war. Er zündete eine Brandflasche nach der anderen an und warf sie über die Mauer. Direkt hinter der Mauer lag der Sand nur ganz dünn über dem ehemaligen Straßenpflaster. Die Flaschen zerbrachen und das Benzin fing an zu brennen. Diesmal sprangen alle Soldaten auf den Lastwagen auf und fuhren mit ihm etwa 200 Meter weiter, außerhalb seiner Reichweite. Man konnte sehen, wie sie in Funkgeräte sprachen, andere telefonierten hektisch. Zwei oder drei Soldaten hielten Scheinwerfer auf uns, andere fotografierten in unsere Richtung.
Gerade als die letzte Brandflasche rübergeworfen worden war, sahen wir unten vor dem Haus Blaulicht. Es war West-Berliner Polizei, die den Angriff beenden sollte. Während sie in das Haus rannten, von dessen Dach aus wir die Grenzler beworfen hatten, liefen wir übers Dach in unser Haus und runter auf die Straße. Dort trafen wir weitere Polizisten an, die sich schon denken konnten, wer wir waren. Sie meinten, dass gleich ein Jeep der US-Army kommen würde und dass wir lieber verschwinden sollten. Also liefen wir um unser Haus herum und über den Hof wieder rein und in unsere Wohnung. Aus dem Fenster konnten wir beobachten, wie die Amis einige Fotos machten, die Nummern der geparkten Autos und die Namen von den Klingelschildern des Nebenhauses notierten. Dann fuhren sie wieder ab.
Für mich war diese Aktion eine Befreiung. Endlich konnte ich meiner Abneigung gegen die DDR freien Lauf lassen. Dass ich mit den Steinen auch jemanden hätte töten können, wenn ich ihn aus 25 Metern Höhe getroffen hätte, das ist mir erst viel später eingefallen. Glücklicherweise ist das nicht passiert und auch durch die Brandflaschen wurde niemand verletzt. Was aus den Flüchtlingen geworden ist und ob der eine von ihnen den Fluchtversuch überlebt hat, das weiß ich bis heute nicht.

ANDI 80

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4 Kommentare

  1. Hallo,

    sehr guter Bericht. Was ich hier erfahren habe war geschichtlich interessant aber als Mutter bekam ich nachträglich einen Schauer über den Rücken.
    Weiter so….
    Doris

  2. Diese Geschichte steht ja schon lange hier, aber ich wurde erst vor kurzem auf sie aufmerksam gemacht. Sie geht mir nahe, auch deshalb, weil ich im Ostteil der Stadt aufwuchs, die Mauer selten wahr nahm und wenn, war es so was wie Neugierde – was ist dahinter, wie leben die dort. Wenn ich in der S-Bahn saß und eine Strecke direkt an der Mauer lang führte, dann wer es in mir stets wie wenn ich einen Krimi guckte. Nun ja, aber ich hatte weder solche Erlebnisse, noch habe ich davon gehört. Erst später, als ich Verlobte von einem Mann war, der bei Magdeburg an der Grenze „seinen Dienst leistete“, wurde mir bewusst, was da so lief. Ich hatte 1 1/2 Jahre viel Angst um diesen Mann. Jetzt frage ich mich: was hat das mit den Menschen gemacht, was machen wir heute daraus, wieviele Mauern gibt es noch – z.B.in unseren Köpfen. Danke für diesen Bericht.

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