Von starken Herzen angefacht

Vom Alexanderplatz brauchen wir mit der U5 bis Kaulsdorf-Nord ungefähr eine halbe Stunde. Wir waren – und hätten von Wannsee kommen können – über die Stadtbahn mit der S7 gekommen; am Ende hatten wir in gerade einer Stunde eine Querschnittsfahrt durch ganz Berlin hinter uns: jedesmal eine Attraktion, viel Stoff zum Nachdenken über den Charakter dieser Metropole, viele Bilder vor allem, schnelle, die außen vorbeiziehen und solche, die mitreisen: die beiden Ratten zum Beispiel, die der junge Penner mit dem freundlich versteckten Gesicht unter dem Hemd trägt und die er jetzt hervor lässt: eine silbergraue und eine helle, sie lieben den jungen Mann, der leise und zärtlich mit ihnen spricht.
Solche Menschen, haben wir das Gefühl, trifft man in der U5 nur selten. Die U5 hat eine wohl gepflegte Population; silberne Fußnägel, grüne Fingernägel, meist aber das klassische Dunkelrot, vielfarbige Haare, zweckmäßige Sommerkleidung, freundliche Kinder, lustige Schuljugend, manche Bücherleser, die es eilig haben nach dem Umsteigen mit dem Weiterlesen. Am meisten beschäftigt uns eine süß schlafende junge Frau, die noch im Schlaf die Diszipliniertheit ihres Dasitzens nicht aufgibt und nur ganz vorsichtig ihren Kopf der älteren Nachbarin fast auf die Schulter sinken lässt.
Uns gefällt Hellersdorf, ehe wir da sind.

„Welche Cecilie?“, fragt L., als wir auf dem Bahnsteig Kaulsdorf Nord den Ausgang suchen und erst dem Pfeil „Cecilienstraße“ folgen. Ja, das ist nun schon am Anfang eine solche Frage, zu deren Beantwortung man sich am besten setzt. Wir spazieren durch die kleine Budenstadt auf den weiträumigen gepflasterten, von Hochhäusern, Wohnblocks, Ladenzeilen umgebenen ruhigen Platz, den die Ernst-Bloch-Straße umgibt. Dort ist ein freundliches italienisches Eiscafé, der Padrone mit dichtem Pferdeschwanz, blau-rot gekleidet, spricht mit Zuneigung und rechnet eindrucksvoll im Kopf. Wenig Betrieb auf dem Platz, junge Mütter mit ihren Kindern, einige ältere Frauen, die vielleicht schon auf Rente sind, die anderen Hellersdorfer arbeiten irgendwo anders. Wir sitzen, weil wir so viel zu sprechen haben und weil der Nachmittag so sommerlich ist, fast anderthalb Stunden; der Platz füllt sich, immer mehr Hellersdorferinnen und Hellersdorfer kommen nach Hause, einige haben die Kinder aus der Kita schon abgeholt und sind jetzt auf dem energischen Heimweg.
Hellersdorf ist jung. Hellersdorf ist der jüngste Berliner Bezirk, niedrigstes Durchschnittsalter, die meisten Kinder. Hellersdorf ist die Jugend Berlins.

„Was?“, ruft L. über ihr Kiwi-Eis. „Das kann doch nicht wahr sein!“ Damit kommentiert sie folgenden Sachverhalt:
Die Cecilienstraße von vorhin ist – wie die meisten Straßen hier unten im jungen Hellersdorf an der U-Bahn – 1986, im Jahr der Bezirksgründung, angelegt und zunächst nach Albert Norden benannt worden. Es gibt immer weniger Leute, die wissen, wer Albert Norden war. Rabbiner-Sohn aus Myslowitz, Journalist, seit Anfang der 1950er Geschichtsprofessor an der Humboldt-Universität, 1976 bis 1981 Mitglied des Staatsrates der DDR, gestorben 1982. Bis 1992 durfte die Straße Norden-Straße heißen. Und seitdem Cecilienstraße. Nach Cecilie Auguste Marie von Mecklenburg-Schwerin, Frau des letzten Kronprinzen von Preußen, der 1951 in all seiner Bedeutungslosigkeit gestorben ist. Da hat L. wohl ganz recht: es dürfte eigentlich nicht wahr sein, dass in den 90er Jahren dieses endenden Jahrhunderts in dem jüngsten Berliner Bezirk eine Straße – auch noch durch Umbenennung – einen Namen dieses Ursprungs erhält. Na gut, könnte man sagen, lassen wir das, es ist wurscht, Cecilienstraße wie Emmastraße, wie Ost- oder West-Straße, die Leute wissen sowieso nicht, was sich irgendwelche anderen über die Geschichte denken.

„Zuvor hatten wir gesagt: Ich geh mal auf den Damm“, erzählt L. nun. „Aber 1946 ist der Hindenburgdamm umbenannt worden in Goethestraße, und wir durften mit einem mal nicht mehr ‚Damm‘ sagen. Keiner hat uns gesagt, warum. Wir haben als Anordnung und nicht mit Erklärung erfahren: Was gestern war, war falsch.“ Hier im jungen Hellersdorf ist es an vielen Stellen ebenso. 1986 sind die Straßen angelegt, sie bekamen Namen meist nach SED-Führungspersönlichkeiten, 1992 die große Umbenennung: aus Albert Schreiner wurde Ernst Bloch, aus Wilhelm Koenen Lily Braun, aus Alexander Abusch Peter Huchel, aus Fritz Selbmann Maxie Wander, aus Heinz Hoffmann die Neue Grottkauer; Peter Edel-Hirschweh, der in Auschwitz sein Leben verloren hat, durfte bleiben. Das sind die Straßen, die wir nachher noch durchwandern werden. Nichts natürlich gegen die jetzigen Namensgeber, ehrenwerte Leute, die meisten. Aber die Tatsache bleibt doch merk- und bedenkenswürdig, dass hier dem jüngsten Berliner Bezirk, kaum dass er angefangen hatte, eine Gegenwart zu haben, bereits wieder eine neue Vergangenheit verschrieben wurde. Das ändert nichts daran, dass Hellersdorf typisches Berlin ist. Wer das Berlin von heute in seiner Wirklichkeit als Stadt und nicht nur als Touristenziel beschreiben will, der darf diesen ordentlichen Bezirk aus jungen Leuten nicht links liegen lassen.

Die Hochhäuser um den Platz, den wir jetzt langsam verlassen, leuchten strahlender als je eine Taut-Siedlung, rot, gelb, weiß, die Höfe sind parkartige Anlagen, viel Spielplatzgelände, Chöre von Kinderstimmen. In der Heinrich-Gräber-Schule sind die licht grünen und rosa Vorhänge zugezogen gegen die Nachmittagssonne. Überall viel Grün, Blühen, Bänke, grüne Draht-Stühle vor den Türen, es ist Nachmittag, es ist Sommer.
Dass die Bodo-Uhse-Straße in die Peter-Huchel-Straße übergeht könnte man als eine kleine Ironie deuten. Und überhaupt der Name des Naturlyrikers Peter Huchel hier wäre Anlass für manchen verborgenen Gedanken. Was hätte zum Beispiel Peter Huchel gesagt zur Umbennung der Wilhelm-Pieck-Straße in Mitte, nachdem er doch 1961 über Pieck gedichtet hatte: „Ehre dem, der widerstand … Ehre dem, der durch den Dunst der Nacht / Das Frührot sah, der Sonne zarten Feuerrand / Von starken Herzen angefacht.“
„Das streich mal aus!“, sagt L. „Was soll das hier?“ Denn nun ist die Huchelstraße schon in die Iselbergstraße übergegangen. Wir sind in einer älteren Gegend von Hellersdorf, aus den 1920er Jahren, ein Datschen- und Kleinhausviertel, manche Neubauten, mancher verwirklicht sich hier seinen privaten Lebens-Traum.
Der Iselbergplatz hieß bis 1938 Hansaplatz, 1938 – als die Nazis Österreich „heim ins Reich“ holten – haben sie dem Tiroler Nationalberg Isel hier einen Erinnerungsplatz gegeben. Dieser Teil der Geschichte hält an.
Zur Maxie-Wander-Straße spazieren wir in das junge Hellersdorf zurück. Wenige Minuten zum U-Bahnhof Neue Grottkauer Straße, fünfunddreißig Minuten bis Alex. Hellersdorf liegt draußen und ist doch drinnen.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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