Offenbares Geheimnis

Das Stadtquartier – man könnte es, wenn es für die Form der Stadt auf Geometrie ankäme, ein Trapez nennen – zwischen S5, S7, S75 der Einbecker Straße, die es als Prinzenallee angeblich schon seit Anfang des 18. Jahrhunderts gibt, der Rummelsburger und der Lückstraße ist durch das, was es auf den ersten Blick zeigt, und das, was es den Blicken fast ganz verbirgt, jedenfalls etwas ganz Besonderes. Sein Eingang liegt beim Nöldnerplatz. Wenn man es von da an durchwandern will, geht man am besten zunächst durch den Archibaldweg, um dort die Häuser von Bruno Ahrends zu betrachten. Aber wem dieser Weg für einen Nachmittag zu weit ist, der steigt eben erst am S-Bahnhof Lichtenberg aus und geht rasch hinüber in die Irenenstraße, um die Wohnanlage in Augenschein zu nehmen, die sich nun seit fast siebzig Jahren zwischen Irenen-, Frieda- und Metastraße erstreckt. Wenn man so beginnt, dreht man sozusagen die Geschichte um; denn unter den berühmten und rühmenswerten Wohnanlagen hier ist diese der Gemeinnützigen Baugesellschaft Berlin-Ost die jüngste: 1931 gebaut von Adolf Rading im Rahmen des „Reichswohnungsprogramms für Arbeitslose“. Aber auf ein paar Jahre kommt es hier jetzt nicht mehr an. Das Quartier, das ich heute durchwandere, umschließt eine Leistungsschau des Wohnungsbaus der Weimarer Republik. Berlin ist überhaupt die Hauptstadt des staatlichen und staatlich geförderten Wohnungsbaus. Berlin war – sagen wir mal: seit den Wülcknitzschen Familienhäusern im Neu-Voigtland der Gartenstraße – die Stadt des Wohnungselends. Mit einer Wohnung, hatte Zille gesagt (aus der Fischerstraße in Lichtenberg), konnte man hier Menschen erschlagen wie mit einer Axt. Nun – seit der Steuernotverordnung des Reichspräsidenten Ebert, die 1924 die Hauszinssteuer hervorbrachte – wurde es die Hauptstadt des sozialen Wohnungsbaus. Aber da war es schon wieder zu spät, um Mehrheiten von den Vorzügen der Republik zu überzeugen. Es gibt viele Örtlichkeiten in Berlin, die die bis heute zu wenig gewürdigten Leistungen des Wohnungsbaus der zu Ende gehenden Republik bezeugen: von der Hufeisensiedlung in Neukölln bis zu der beeindruckenden Wohnanlage um den Kissingenplatz in Pankow, die sich gerade wieder zu neuem Glanz erhebt. Eines der dichtesten Areale dieser sozialen Baugesinnung umschließt aber diesen Lichtenberger Kiez, den ich jetzt im schönsten Juni-Sonnenschein durchmesse.

Die Straßen dieses Viertels sind um die [vorletzte] Jahrhundertwende angelegt. Und also erhielten sie Namen, die zu dieser Zeit für die Herren über die offizielle Geschichte In-Namen waren: Walderseestraße (nach einem Feldmarschall), Bismarck, Caprivi, Hohenlohe-Schillingsfürst (nach Reichskanzlern), Dallwitz, Solz, Miquel (nach preußischen Ministern); 1951 ist von diesen früheren Namen nur der des Reichspostamtsleiters Kraetke übriggeblieben, zu dem dann der spätere Zachert gut passt, denn dieser SPD-Widerstandskämpfer, den die deutsche Justiz in Plötzensee ums Leben gebracht hat, war Vorsitzender der Postgewerkschaft gewesen.

In der Zachertstraße verweile ich jetzt. Dann gehe ich die Marie-Curie-Allee südwärts bis zur Ecke Delbrückstraße (auch noch ein Name aus Kaiserzeiten): „Sonnenhof“ heißt diese kompakteste Wohnanlage der 20er Jahre, von Erwin Gutkind 1926/27 für „Stadt und Land“ gebaut; an den breiten Backsteinbändern erkennt diesen Architekten wieder, wer seine Wohnanlagen in der Thulestraße in Pankow und in der Ollenhauerstraße in Reinickendorf kennt. Dann die Archenholdstraße nordwärts, um die tatsächlich nach Abraham Lincoln heißende Parallelstraße wieder südwärts zu gehen und so die Wohnanlage von Paul Mebes und Paul Emmerich zu umwandern: die Fassaden sind durch drei- bis viergeschossige Lauben, ziegelrot vor den lichtgelben und graugrünen Fassadenflächen, gegliedert: ein Markenzeichen dieser bedeutenden Architekten, vielleicht kann man sie die Spitzenleute des Wohnungsbaus der 20er Jahre in Berlin nennen. Am Kissingenplatz in Pankow haben sie – ich sagte es – eine eindrucksvolle Wohnanlage zusammen mit Jacobus Goettel gebaut, von dem die Häuser zwischen Kraetke-, Ribbecker und Zachertstraße sind, zu denen ich nun gelange.

Das ist hier der Höhepunkt. Erst merkt man es gar nicht, dass es der Höhepunkt ist. Man sieht die dreieckig vorspringenden Doppelloggien aus roten Verblendklinkern vor gelblichweißen oder gelbem Putz, in der Kraetkestraße auf der einen Seite nur die Treppenhauserker als Fassadengliederung, auf der anderen aber terrakottarote Doppelkreuze vor gelbem Putz ehe in einer eleganten Schwingung die Straße in die Rummelsburger Straße mündet und dem ganzen so einen zusätzlichen geschlossenen, privaten Charakter vermittelt. Diese Baublöcke zwischen Kraetke- und Ribbecker Straße – und die Ribbecker ist nach der Heimat von Fontanes Birnbaum benannt – umschließen ein Geheimnis. Ja, man kann sagen: ein Geheimnis. Dass die Hofanlage „Ulmenhof ` heißt, kann man zwar schon in den Büchern lesen. Aber was heißt „Hof“? Es ist ein Charakteristikum des Bauens am Ende der 20er Jahre, dass die Wohnblocks Innenhöfe bekamen, in denen sich die Bewohner privat und zu Hause fühlen konnten. Diesen Ulmenhof erreicht man nur durch die Freundlichkeit von Mietern. Die Frau, die uns durch den Keller in den Hof lässt, ist hier schon geboren, erzählt sie und hat die Wohnung von ihren Eltern übernommen. Etwas anderes als „Oh!“ und „Ah!“ können wir zunächst nicht sagen. Der Ulmenhof ist eine Hoflandschaft, ein wilder Park, wuchernd und wachsend. Ich fühle mich wie im botanischen Garten. In einer fremden und zugleich vertrauten Welt, widersprüchlich und eindeutig. Der Hof ist ein Geheimnis. Aber ein offenbares. Und das alles ist Berlin. Von U-Bahnhof Friedrichsfelde bis zum Alexanderplatz braucht man nur fünfzehn Minuten.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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