Von Schleiermacher zu Hegel

Ich bin jedenfalls einverstanden mit dem schlechten Wetter. Wenn man melancholischer Stimmung ist, tut nichts so gut wie ein Spaziergang durch schlechtes Wetter. Ich muss den Schirm festhalten und aufpassen, dass ihn nicht ein falscher Wind erfasst. Meiner Lebensfreundin geht es genauso. Sie hätte einen Mantel mitnehmen sollen. An der Ecke Mohren-/Glinkastraße friert sie jetzt und hat den Kopf eingezogen.

Wir sind mit der U2 gekommen, mit der ich so gerne U-Bahn fahre, weil sie in ihrer Gegenwärtigkeit so viel Vergangenheit so schnell hinter sich lässt. An der Station Mohrenstraße sind wir ausgestiegen.
„Mohren?“, fragt Liesel. Die sogenannten Traditionen – aber meistens handelt es sich ja sowieso nur um Wissen – sind viel kürzer, als gerne behauptet wird. Welchem Preußenkönig die Mauretanier „gehörten“ – als ob sie Sachen gewesen wären – das wissen die Handbücher schon kaum noch genau; dem „Soldatenkönig“, das scheint zu passen, vielleicht aber auch Friedrich I., von dem Sophie Charlotte, die Gemahlin, zu Leibniz, dem Freund, sagte: Die Idee des unendlich Kleinen brauchen sie mir nicht zu erklären, ich kenne doch Seine Majestät.. Das wird eine Anekdote sein. Die Mohren-Geschichte vielleicht auch. Der König machte angeblich Militärmusiker aus den Dunkelafrikanern, die hier wohnten und im Traume die Berge und Wüsten ihrer Heimat gesehen und geweint haben.

Das Pfarrhaus an der Ecke Tauben-/Glinkastraße ist zu. Nur durch das Schlüsselloch können wir den Garten sehen und uns einbilden, dass er schön ist. Wenn jetzt die Sonne auf das südliche Gelb des Kirchenhauses fiele, würden wir verweilen und über Schleiermacher sprechen; eine Zeit lang predigte er in der Dreifaltigkeitskirche, die gerade da stand, wo die Mauerstraße jetzt einen kleinen Knick macht und wo sich Liesel vorhin vor dem Regen gebückt hat. Die Pfarrhäuser, heute zwei, ursprünglich drei, sind 1738 erbaut; die beiden spitzgiebeligen Torbögen, die sie verbanden, sind noch da; im dritten Haus, das weg ist, hat Schleiermacher ein paar Jahre gewohnt.
„Schleiermacher? Du weißt doch bestimmt alles über Schleiermacher“, spitzelt meine Lebensfreundin unter dem blauen Regenschirm hervor. Das heißt, dass ihr das Wetter viel zu schlecht ist, um über Schleiermacher wirklich etwas wissen zu wollen. Muss man denn? Überhaupt nicht! Schleiermacher ist out. Das ist viel schneller gegangen, als mancher dachte. „Aber der Name ist schön: Schleiermacher. Er macht zarte Schleier, um alles zu- und abzudecken.“ Vielleicht, denke ich, während wir nun ziemlich schnell die Glinkastraße aufwärts wandern, um ins „Einstein“ und ins Trockene zu kommen. Man könnte den Theologen Schleiermacher genauso gut vor die Uni setzen wie die Brüder Humboldt. Er gehörte zur Gründergeneration. Der größte protestantische Theologe seit Luther… hieß es; aber heute muss man den Studenten ja schon Luther erklären, falls mans kann.

Eine Zeit lang hat er gedacht, hat Manne Jagusch, der Fotograf, mir gestern erzählt, Glinka, nach dem die frühere Kanonierstraße seit 1951 heißt, sei ein Mitbegründer der KP gewesen und müsste Paul mit Vornamen heißen. Die Benennung ist aber weder ideologisch noch zufällig. Denn in Berlin hat Michael Glinka Komposition gelernt, in Berlin ist er 1857 gestorben; ursprünglich war er auf dem Dreifaltigkeitskirchhof begraben. Alles dreifaltig. Das meiste, was etwas taugt, hat unklare Gestalt und wird durch alle Interpretationen nicht eindeutig.

Das „Einstein“ ist proppenvoll. Im hinteren Zimmer ist aber der hinterste Tisch frei, von dem kann man auf die in der Ganggalerie ausgestellten Fotos des Hollywood-Stars Dennis Hopper blicken. Nach dem doppelten Espresso kommt Liesel auf Schleiermacher zurück, und als ich aushole (etwa: „Hegel war ein bis in die Zähne gerüsteter, mit seinem Pallasch gerade durchhauender Kürasier, während Schleiermacher mit einem gewandten, leichten Pferdchen sich als ein zierlicher Ulan tummelte“) sehe ich ihr die Langeweile an.
„Weißt du nicht was Persönliches von ihm?“ Wie seine Beziehung zu Henriette Herz, der schönsten Frau des Jahrhunderts, war, weiß ich nicht genau genug und vielleicht weiß es niemand. Die persönlichen Beziehungen, die ich zu Schleiermacher habe, führen über Platon, den er übersetzt hat, in ein so klassisch klares, also einfaches Deutsch und zugleich so wörtlich, dass sich daraus trefflich abschreiben ließ, wenn man unter der Bank verstohlen blätternd die richtige Stelle fand. Dafür hat Rudi Taurit 1953 im Katharineum in Lübeck eine 5 gekriegt, weil der Studienrat dachte, er hätte von mir abgeschrieben, während wir doch beide Schleiermachers Klassik zur Anwendung brachten, die der Studienrat offenbar weniger gut kannte als wir.

„Nicht möglich!“, sagt Liesel, die in einem früheren Leben selbst Lehrerin war, aber ich höre ihr schon an, dass sie die Möglichkeit der wahren Geschichte nicht ernsthaft bestreiten will. Ihr nächstes „unmöglich“ gilt den Stacheldrahtabsperrungen um die US-Botschaft in der Neustädter Kirchstraße. Da wird erst recht klar, in welchem philosophischen Sinn sie den Begriff der Möglichkeit verwendet. Eh wir auf dem Hegelplatz sind, der das Ziel unseres Spaziergangs sein soll, fängt es wieder heftig zu regnen an. Wir stellen uns in der Dorotheenstraße unter einem Baugerüst unter.
„Hegel kann ich sowieso nicht leiden“.
„Ich wusste gar nicht, dass deine Beziehung zu Hegel so intensiv ist, dass du ihn sogar nicht leiden kannst.“
„Wegen seiner Bemerkungen über die Juden“.
Ich weiß nichts von solchen Bemerkungen. Sie kriegt auch keinen beurteilungsfähigen Text hin, aber am Abend finde ich in Pastor Lassons Ausgabe der „Phänomenologie des Geistes“ von 1907 zitiert: „Das Schicksal des jüdischen Volkes ist das Schicksal Macbeths, der aus der Natur selbst trat, sich an fremde Wesen hing und so in ihrem Dienste alles Heilige der menschlichen Natur zertreten und ermordet, von seinen Göttern endlich verlassen und an seinem Glauben selbst zerschmettert werden musste“. Muss das Christentum überwunden werden, zumindest dieses preußische, ehe der Antisemitismus überwunden ist?

Der Hegelplatz – an der Universität Kastanien, an der S-Bahn Linden – ist ein studentischer Ort. Unter den S-Bahn-Bögen Cafés, Bistros, vorne Fahrradständer der Studis und der rote Sand. Der dicke Kopf von Hegel auf der Granitsäule fällt weiter nicht auf. „Hegel“ steht nur dran. „Wer nicht schon Bescheid weiß, lernt da aber nichts“, sagt Liesel. Vielleicht hat es aufgehört, dass man aus Hegel lernt. „Der Geist erscheint hier als Werkmeister und sein Tun ist eine instinktartige Arbeit, wie die Bienen ihre Zellen bauen.“

Ich weiß auch zu Hegel eine persönliche Geschichte. Als ich zu Ende der 50er Jahre in Kiel bei dem auch durch die frühe BRD berühmten Rechtslehrer Karl Lahrenz im Seminar saß über „Hegels Rechtsphilosophie“, gab ein Kommilitone heimlich einen Text herum, den er in der Bibliothek gefunden hatte und in dem kaum anderthalb Jahrzehnte früher der berühmte Rechtslehrer mit Hegel begründet hatte, warum Juden keine deutschen Staatsbürger sein können.
Als wir endlich ein Taxi gekriegt haben und nach Hause fahren, ist mir, als könnte das alles nicht wahr sein. Vor allem, dass man nicht gleich widersprochen hat, das wäre mir lieber nicht wahr.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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