Gartenstadt Staaken II

Die bekanntere Gartenstadt Staaken ist weniger Staaken als die neuere. Vom Rathaus Spandau mit dem 132er bis zur Haltestelle Brunsbütteler / Nennhauser Damm: 12 Minuten, wirklich nicht mehr. Die Haltestelle hat etwas Endgültiges, zunächst scheint Berlin hier nicht weiterzugehen. Manche 132er fahren aber um die Kurve nach Süden und alsbald durch eine zweite Kurve scharf nach Westen, nach Dallgow-Döberitz; für andere ist allerdings hier Schluss, wo der Brunsbütteler Damm, um den sich bis hier heraus ziemlich viel Spandau ordnet, endet. Linker Hand kommt dann gleich „Dorf Staaken“. Nachmittags um vier/halb fünf ist es gar nicht so einfach, über die Straße hinüber zu kommen zu dem Kirchlein an der Hauptstraße, die als übrig gebliebene Dorfstraße die tatsächliche Hauptstraße überquert und hinüberführt in die jetzt auch so genannte „Gartenstadt Staaken“.
Wer schließlich auf dem Anger vor der Kirche steht und die 80 Jahre überdenkt, welche die Gartenstadt Staaken oben am Heidebergplan von der Gartenstadt Staaken hier unten an Haupt-/Bergstraße und Wiesenweg trennen, der kann im Nu ein Gefühl erwerben von der Beliebigkeit der sogenannten Geschichte oder sagen wir: von ihrer Interpretationsfähigkeit.

Vor der Kirche steht ein Denkmal, das vorgibt von der „sozialistischen Einheit“ zu stammen: es erinnert an die „Befreiung der Stadt Staaken durch die Rote Armee“; der Stein stammt aber schon aus dem Jahre 1901 und erinnerte ursprünglich an die Errichtung des Preußischen Königtums (was freilich nicht in Staaken geschah, sondern im fernen Königsberg und von polnischen Gnaden), tatsächlich gibt es heute, hörte ich, Spandauer Politiker, die die Rote Armee hier streichen wollen, als hätte es die gar nicht gegeben, und wieder vom Preußenkönigtum denkmalen wollen, als gäbe es das noch: da gewinnt dieser eigentlich ganz belanglose Gedenkstein eine Doppeldeutigkeit und damit eine Bedeutung, die man ihm sonst gar nicht ansähe. Ein kleines Stückchen weiter an der Kirchhofsmauer wird des Regierungsjubiläums Wilhelms II. gedacht, der am Ende von WK 1 einfach weglief, als sei er für die vielen Toten überhaupt nicht verantwortlich: „Heil unserem Herrscher!“; das Eisenschild hat fünf deutsche Staaten überstanden. Vor der Kirche steht ein Kreuz für die Toten, die dieser Herrscher hinterließ und nicht genannte spätere, deren Namen man auch vielfach mit Heil! gerufen hat: „Seinen gefallenen Söhnen das dankbare Staaken“ 1914-1918, 1939-1945: Haben nur Söhne das Leben verloren in den Weltkriegen? Und wofür muss man den Opfern dankbar sein? Mich machen die Opfer dagegen traurig. Auf dem Kirchhof wächst ein kleiner weißer Maulbeerbaum: „Baum der Versöhnung“ Traude Fröhlich aus „West-Staaken im Osten“ und Elli Schneider aus „Ost-Staaken im Westen“ haben ihn 1993 gestiftet. Möge sie wachsen, die kleine Maulbeere! Man muss gar nicht so sehr daran denken, dass dieses Gebiet hier 1945 wegen des Flugplatzes, den die Engländer in Gatow haben wollten, zum Bezirk Mitte (wirklich!), also zum Berliner Osten geschlagen wurde und erst mit dem Einigungsvertrag zurückkam zu Spandau. Wenn man nur daran denkt, dass man nicht trennen soll, was zusammen gehört. Vielleicht reicht es auch, dass man immer daran denkt, Frieden zu halten.
Frieden ist besser als Krieg, will ich schon denken, während ich nun aus der dichten Straßenkurve des Nennhauser Dammes in den Weidenweg einbiege, der mich zur Heerstraße führt, wo die Vergangenheitserinnerungen mir alles Nachdenken über die Gegenwart unmöglich machen, weil sie in undifferenzierter Heftigkeit über mich hereinbrechen. Ich war gerade im Jahre 1961 aus Lübeck nach Berlin gekommen. Als die Geschichte (oder wer?) dem Land eine Wende gab, gab ich meinem Leben auch einen Schups und wurde ein Berliner: über die Heerstraße und die B5 ging die Fahrt oftmals hin und her; so oft prüften junge Männer hier mein Gesicht und verglichen es mit den Berechtigungsscheinen, dass ich manchmal denke, manchmal müsste man doch einen wiedererkennen.

Hier steht eine Bank; gegenüber liegt auf dem Hahneberg das Fort Hahneberg, das militärisch veraltet, bevor es fertig war; die Straße ist grenzenlos schnurgerade, ein paar Minuten lang lasse ich die Autos an mir vorbeibrausen und genieße ihre Haltlosigkeit. Bis ein seltsames tiefes Bellen mich aus den vergeblichen Versuchen, die Vergangenheit zu bewältigen, herausruft: Das kann doch nicht sein, denke ich, als ich die beiden Kamele sehe; aber da sehe ich auch schon das gelb-blaue Zelt vom Zirkus Renz und höre die circensische Schmettermusik.
Über den Asphaltweg, den ein – wenn auch geschlossenes – Tor nicht versperrt und an dem rechts und links die Reste der Vorigkeit liegen, erreiche ich die Adelheid-Poniska-Straße, derentwegen – oder der Siedlung wegen, zu der sie gehört – ich eigentlich gekommen bin. Adelheid Poniska war im [vor]vorigen Jahrhundert eine Protagonistin der Gartenstadt-Bewegung: Raus aus den Mietskasernen, in die frische Luft am Rande der Stadt! Da haben sich die Straßennamensgeber ja wirklich etwas gedacht. Und wirklich steht in den Architekturbüchern – ich sagte es schon -„Gartenstadt Staaken“ für dieses Areal hier: Der erste Teil gerade fertig; der Investor wohl die Bauwert GmbH aus München, der städtebauliche Plan von dem Architekten Schiedhelm und seinen Partnern, die Landschaftsplanung von Stephan Haan und die tautfarbigen Häuser hinten von den Architekten Feige und Döring. Über die andere Gartenstadt Staaken – wie gesagt – kann man lange Geschichten erzählen. Vor allem über den Architekten, den der Gartenstadtgedanke geradewegs in den Nazismus geführt hatte und der trotzdem ein Liebling der Bundesrepublik wurde (ob wir „deswegen“ sagen müssen, wäre immer noch eine Frage, wenn die Geschichte nicht unterdessen andere Kapriolen schlüge, für die wir Wörter suchen). Wer diese schön und nützlich angeordneten Häuser hier am Stadtrand „Gartenstadt“ genannt hat, hat vielleicht an die andere Gartenstadt Staaken überhaupt nicht gedacht. Oder er hat nur gedacht: Stadt und Garten – wer beides zugleich hat, der hat doch, was er wahrscheinlich will. Die Gegend sieht sehr zufrieden aus.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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