Zum Boddin- und Herrfurthplatz und über den Wartheplatz zurück

Mein heutiger Weg durch Neukölln begann dem Rathaus gegenüber bei Kopp, Delikatessen, Feinkost, vier Sorten Bouletten, drei Sorten Kartoffelsalat und sonst noch manches, was Leib und Seele zusammenhält; die Bedienung ist freundlich und nachbarschaftlich, man wird behandelt, als ob man schon oft hier gewesen wäre. In Neukölln hat man keine Schwierigkeiten, dazu zu gehören.
Hier ist man in Rixdorf. „Canalisation von Rixdorf“ steht auf dem Kanalisationsdeckel, unter dem es die Boddinstraße abwärts rauscht. Rixdorf liegt am Meer, könnte man shakespearisch denken. Die Beziehungen verschieben sich schnell. Als Rixdorf als Deutschlands größtes Dorf vor gerade 100 Jahren Stadt wurde, hieß der Ortsvorsteher, der mit einem rechtlichen Federstrich Oberbürgermeister wurde, Hermann Boddin. Nach ihm heißt die aufsteigende Straße, an der sich schon die erste Kneipe Bergklause nennt, nach ihm heißt der Boddinplatz, in den die Straße mündet wie in einen hochgelegenen Hafen, und nach ihm heißt vielleicht auch die Hermannstraße selbst, statt nach Hermann dem Cherusker, den die Römer Arminius nannten und an dem sich am Ende des Jahrhunderts, als Deutschland Weltmacht werden wollte, das Nationalbewusstsein emporzog, aber doch nicht gerade hier, wo von der deutschen Weltmacht die Not und das Elend aufgehoben waren. In der Mitte der Boddinstraße liegt die Schule, die heute auch nach dem Bürgermeister heißt, aber anfangs nur mit Nummern bezeichnet war 1., 2., 29. und 30. Gemeindeschule für Knaben und Mädchen, gebaut von dem Neuköllner Stadtbaurat, Reinhold Kiehl; Rathaus, Stadtbad, Passage in der Karl-Marx-Straße sind auch von ihm und noch mehrere Schulen. Diese Doppel-Doppelschule hatte 72 Klassen, für 3600 Schüler; damals, 1907, 1908, soll sie überhaupt die größte Schule Deutschlands gewesen sein; und in manchen pädagogischen Schriften konnte man lesen: so geht das nicht, „ebenso wie überfüllte Mietshäuser wird man schließlich auch solche Riesenschulen als unhygienisch bekämpfen“. Rixdorf wuchs im Tempo der Spekulation, also viel zu schnell für kommunale Kassen, die die Einrichtungen bezahlen müssen, mit denen sich nichts verdienen lässt.
Auf dem Boddinplatz mache ich Pause. Der untere Teil des Platzes ist spielplatzfrei, der obere ein lebendiger Bolzplatz; Fußball ist eine soziale Übung und auch ein Aufstiegstraining, die Idole, die hier zählen, sind umso anerkennenswerter, je weniger sie den nationalen Zusammenhängen entnommen sind. Dass die multikulturellen Vereinsmannschaften, die Fußballhandelsunternehmen, mehr Zustimmung finden als die Nationalmannschaften – ist auch ein kultureller Fortschritt, denke ich. So was Ähnliches hat Beckenbauer auch gesagt.

Durch die Mahlower Straße gehe ich heute vor allem deswegen, weil im Haus Nr. 22 die berühmten, aber nun auch in die Geschichte versunkenen „Spartakus-Briefe“ gedruckt worden sind; viele Texte von Rosa Luxemburg darunter, von Mathilde Jacob aus dem Gefängnis geschmuggelt. Genützt hat es nichts; das Weltkriegsmorden dauerte, bis es sich erschöpft hatte; es war nicht durch Vernunft aufzuhalten. So ist es wohl immer, denke ich melancholisch, wenn Krieg angefangen ist. Man ist nur Herr über den Beginn, dann Sklave des Es-geht-nicht-anders. Bei Istanbul Spor an der Ecke biege ich in die Fontanestraße; von den zehn Straßen, die in Berlin nach Fontane benannt sind, ist das hier beinahe die älteste; angeblich seit 1894 heißt diese Rixdorfer Straße nach dem Dichter, da lebte er noch und hatte den „Stechlin“ noch nicht geschrieben.
Die Fontanestraße weitet sich alsbald zur Schillerpromenade, die einem exemplarischen Berliner Mietshausviertel den Namen gibt. Um 1870 war hier alles noch Dorf, ländlich; fünf Jahre später gab es schon einen Bebauungsplan und eine Terraingesellschaft, die das Gelände Grundstück für Grundstück an Einzelbauherren verkaufte; die Häuser sind aus den Jahren zwischen 1900 und 1913; sie zeigen den Stand des Berliner Mietshauses in der letzten Zeit vor dem ersten Weltkrieg; meist kleine Wohnungen, in den Vorderhäusern bessere als hinten. Das Ganze macht bis heute einen sehr städtischen, geschlossenen Eindruck; die Mittelachse eine baumbestandene, heute Spielplatz an Spielplatz fügende Promenade, vom rondellartigen Herrfurthplatz zusammengefasst. Die Genezareth-Kirche ist von Schwechten, der auch die Gedächtniskirche gebaut hat und einige andere Kirchen, auch den Anhalter Bahnhof: also die für das Nach-WK-Zwo-Berlin charakteristischen Ruinen. Auch die Genezareth-Kirche ist eine Fast-Ruine; der Turm ist gekappt; seit 1940 schon, als die Nazis zuerst an die Flugzeuge dachten: das Tempelhofer Feld ist als Flugplatz hauptsächlich Nazi-Werk, Sagebiel hieß der Architekt, der die allerdings eleganten Hallen gebaut hat, auch für Hermann Göring das Riesenministerium an der Wilhelmstraße, in das Oscar Lafontaine nun nicht einzieht.

Bis zum „Verbeugungsweg“ ist es nicht weit: der Fußgängerverbindung zwischen Oder- und Oderstraße, wo wir in Westberliner Zeiten oft standen, um uns die Constallations dicht über die Köpfe donnern zu lassen, wie man am Ufer eines Flusses stünde, über den gebracht wird, was man braucht. Wenn man entweder den Fußweg zwischen den Friedhöfen entlang oder außen herum über Warthestraße und den exemplarisch geschlossenen Wartheplatz und ein Stück die Hermannstraße wieder nördlich gegangen ist, sieht man die Masten des über die Friedhöfe führenden Funkfeuers direkt hinter dem Budenladen des „Zauberkönigs“ beginnen, der hier wunderbare Verheißungen bereithält. Weg mit euren schmutzigen Händen vom Balkan! plakatiert die Türkische Kommunistische Partei. „Klassenkampf statt Volksgemeinschaft!“ stand oben an der Schillerpromenade, aber unter der einigermaßen versöhnlichen Parole „Ohne Mampf kein Kampf!“ auch eine Einladung zu „gutem Essen“ vom „proletarischen Aktionskomitee“.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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