In der Heidenstadt

Gestern, am ersten wirklichen Frühlingstag des Jahres, ging ich in die Ritterstraße. Von der Redaktion des Bezirksjournals ist das nicht weit. Als ich auf den U-Bahnhof Hallesches Tor zuging, dachte ich: er sieht aus wie ein Panzerkäfer von Kafka; aber als ich auf einer Bank am Mehringsplatz Platz nahm, wo schon Paare saßen, die sich küssten, verwarf ich diese Vorstellung als viel zu literarisch. Zum Kammergericht hinüber in der Lindenstraße ging ich durch die E.T.A.-Hoffmann-Promenade, die links und rechts so abweisend aussieht, dass sie den Namensgeber beleidigte, wenn nicht gerade dies: das Doppel- und Mehrdeutige im Alltäglichen, das wäre, was den berühmtesten Kammergerichtsrat heraushöbe aus dem Kreis all seiner Kollegen. In meiner Jugend war ich auch Kammergerichtsrat. Ich habe kein sehr tiefes Bedürfnis, Kammergerichtsgebäude zu betrachten, auch wenn sie unterdessen Museen sind. Als ich den historischen Gelb-Bau an der Lindenstraße vor mir habe, wende ich mich also ab, in die Markgrafenstraße hinein.
Der Beginn der Ritter- an der Markgrafenstraße, der über 200 Jahre lang Junkerstraße hieß, bis in den 70ern niemand mehr wusste, was Hof-, Kammer- und Fahnenjunker waren, ist park- und basketballplatzig: ein Stadtstück, das noch nicht weiß, was aus ihm werden soll; hier müsste eine Bank stehen, denke ich, damit ich in aller Ruhe Antworten suchen könnte auf die Stadtfrage: Wie wird aus West- und Ostberlin die Stadt, die sich als deutsche Hauptstadt nicht nach Himmelsrichtungen und Solidarzuschlägen unterscheidet. Bis zur Jacobikirche an der Jacobikirchstraße, die sich ausdrücklich und bedeutungsvoll eine Privatstraße nennt, werde ich denken: Die Ritterstraße ist immer noch eine Westberliner Straße; man merkt noch, dass sie am Rande lag, denn gleich in ihrem Rücken kam die Mauer, der auch noch die späten 80er-Jahre-Häuser den Rücken zuwandten. An der Ecke Lindenstraße beginnt die Ritterstraße mit diesen Häusern aus den Architekturbüchern, Internationale Bauausstellung, IBA, zweiter Westberliner Versuch (nach dem 50er-Jahre-Versuch im Tiergarten, Hansaviertel: IBA Nr. 1), an die Tete der architektonischen Moderne zu treten. Aber unterdessen war es die Postmoderne geworden.
An diesem Donnerstag, der vielleicht ein geschichtliches Datum benennt, 25. März 1999, wird uns das zu einem aufregenden Thema. Auf der Terrasse von La Piccola, vor dem Eckhaus der buchberühmten Wohnanlage Ritterstraße-Nord, sitzt Manne Jagusch, der Fotograf. Er winkt mir zu. Zum ersten Mal in diesem Jahr sitzen wir mit unserem Milchkaffee draußen.
„Stimmt es, dass Serbien der BRD den Krieg erklärt hat?“ fragt er.
„Die Bomben hat doch unser Genosse Scharping geschmissen. Die Nachkriegs-Generation macht Krieg.“
„Wenn ich mir vorstelle, wie die jungen Männer reden, wenn sie heimkommen aus ihren Tornados und ihren Frauen Heldentaten mitteilen müssen…“
Wir sind alte Männer. In unserer Jugend haben wir hier, auf dieser deutschen Erde, erlebt, was Kinder empfinden, wenn Erwachsene Bomben auf sie werfen. Und infolgedessen sind wir einigermaßen stolz gewesen, dass wir als Erwachsene in einem Staat gelebt haben, der keine Soldaten in andere Länder marschieren ließ oder gar Bomben auf sie warf. Bis heute. Das ist nun vorbei. Die Postmoderne will die Lehren nicht mehr beherzigen, die die Moderne ihr erteilt. In der Mittagsonne trinken wir Wein gegen unsere Verzweiflung.

An dem Eckhaus gegenüber, Lindenstraße 29, hat einer unserer Schul- und Jahrgangsgenossen mitgebaut. Den kopflosen Ecktürmen meinen wir anzusehen, dass der Autor mal etwas geschrieben hatte über Eckbebauung, „als ob sie etwas Unanständiges sei, schleichen die Häuser an der Ecke vorbei“. Vor dem postmodernen Torbogen, über dem sich das vielabgebildete Haus von Rob Krier erhebt, das nun folgt, steht ein grüner Jägerzaun der unmetropolitansten Heimeligkeit; gegenüber der Eingangshof von Ritterstraße-Nord, dem links und rechts und in der Mitte Innenplätze und Innenhöfe folgen, die die Architekten nach Schinkel nannten, obwohl sie von der Nummer eins der Berliner Hauptstadtarchitekten nichts haben; aber es sind freundliche, kindergeneigte Einrichtungen.
„Wieviel Einwohner hat denn Serbien?“ wird am Abend unser Freund fragen, der ehemalige Staatssekretär, „ich hab ein bisschen Angst wegen meiner Kinder“. Meine Tochter ist längst erwachsen, Kinderangst muss ich um sie nicht mehr haben, ich habe im eigenen Interesse Angst.
Die postmoderne Ritterstraße-Nord-Bebauung stößt an die „Reichsschuldenverwaltung“, den einzigen Haupstadtbau hier in der oberen Ritterstraße, von German Bestelmeyer, 1919-24, als die Schulden, überwiegend Kriegsschulden, das alt-neue Reich schon tiefer in die Schuld gedrückt hatten, als es selbst wusste. An der Ecke Ritter-/Alexandrinenstraße baut die Freie Waldorf-Schule mit Lottomitteln naturwissenschaftliche Unterrichtsräume und eine Aula. Ich hoffe doch, das der Lottoausschuss auch andere pädagogische Alternativen finanziert als gerade die anthroposophischen. Unser aktueller Innenminister ist doch auch Anthroposoph, denke ich, ich bin viel länger Sozialdemokrat als Otto Schily, aber er müsste eigentlich auch wissen, was Bomben … ach nein, der Tag ist zu schön, um solche Gedanken zu Ende zu denken, lieber alles im Ungewissen lassen und sich an den Forsythien freuen.

Das besonders rechtwinkelige Haus gegenüber, Nr. 48 abwärts, mit der blassgelben Ziegelfassade, das glasüberdachte Innenflure umschließt und rollschuhrennige Innenhöfe, steht an einer historischen Stelle. Die Berliner-Porzellan-Gedenktafel wirkt fast ironisch. In 45 Wörtern beschreibt auf ihr in blauen Buchstaben ein Lehrer, sagen wir mal: ein Lehrer, wer Adolph Menzel war. Der kleine größte Berlin-Maler aller Zeiten – ja! – hat hier, in einem prächtigen Haus, drei Treppen hoch, 13 Jahre lang gewohnt. Es gibt drei tolle Bilder von ihm mit Blicken aus der Ritterstraße. Zwei davon gehören Schweizer Rüstungsfabrikanten, das dritte hängt in der Nationalgalerie. Im Sonnenlicht zeigt es draußen die Gärten zwischen Ritter- und Oranienstraße; Menzels Schlafzimmer an einem Sommertag. Das nachlässig bedeckte Bett, in dem sich nie eine Frau aufhielt, sieht aus, als hätten Geister drin gelegen; nur E.T.A. Hoffmann könnte es angemessen beschreiben. Als Menzel hier in der Ritterstraße einzog, war die Jacobikirche, ein Stück weiter östlich, gerade fertig; der romantisierende König hatte sie bauen lassen, der im Jahr darauf, im März 1848, die demonstrierenden Handwerker erschießen ließ – ihre Aufbahrung am Gendarmenmarkt hat Menzel unfertig gemalt: im Mittelpunkt die Leere „um ein Zeichen zu setzen gegen die Heidenstadt Berlin“, als ob es nicht gerade die Könige und die Herren wären, die die Worte des Herrn vergäßen: „Du sollst nicht töten!“ (zum Beispiel) oder: Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert sterben.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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