Rollberge

Halb vier am Mittwoch Nachmittag; die U7 nach Rudow ist proppenvoll, multikulturell; viele Frauen, die mir gut gefallen, junge und ältere, sie sehen aus, als ob sie Bescheid wissen. In meiner Jugend habe ich manchmal davon geträumt, eine Friseurmeisterin mit Laden in Neukölln zur Freundin zu haben. Rathaus Neukölln erwartet mich aus dem Amtsgericht gekommen – die junge Kollegin, die mich heute begleiten will, um zu kontrollieren, „ob es unser Berlin ist, was du aufschreibst und nicht nur deins!“ Als wir die Boddinstraße aufwärts gehen, gibt die Bürgerstochter aus Steglitz zu, dass sie hier noch nie gewesen ist. Neukölln ist aber die Hauptstadt Berlins; das habe ich hier schon mal geschrieben; ich empfinde es jedesmal wieder. Schon auf den ersten Schritten die Boddinstraße hinauf habe ich aber zugleich eine Empfindung von Paris, Montmartre. Weil es aufwärts geht.
Die Stadt hebt sich an, die Rollberge hinauf, auf denen die Mühlen standen. Ehe Neukölln kam, hieß es sowieso Rixdorf, bevor Rixdorf kam (oder nur ein Dorf am Rande war oder zwei Dörfer: Deutsch-Rixdorf und Böhmisch-Rixdorf, „Deutsch-Neukölln und Türkisch-Neukölln“, kommentiert die Kollegin aus Steglitz), standen auf den Rollbergen vierzehn Windmühlen, und von Berlin sah man – wie die Scherenschnitte vor der Lampe – die Windmühlen vor der Abendsonne, die ein rotes Tuch hinter ihnen ausspannte. Als meine schöne Kollegin nach oben blickte wie zum Horizont, zeigte ich nach unten. Die Kanalisation rauschte. Soll ich sagen: Sie sang herauf aus dem kunstvollen Kanaldekkel im Bürgersteig, der gusseiserne Strahlenkreise beschreibt um einen fünfzackigen Stern: „Canalisation von Rixdorf“? Das war 1893.

Ich protze mit meinem Lokalwissen vor meiner Kollegin, hoffentlich stimmts: 1887 erhielt Rixdorf privatwirtschaftlich öffentliches Wasser, Charlottenburger Wasserwerke AG; hinten, nachher, am höchsten Punkt der Rollberge, werden wir den Wasserturm sehen, der seit 1894 hier steht. „Das ist ja der Juliusturm!“ wird meine Kollegin ausrufen; tatsächlich, der Architekt hat Spandau nach Rixdorf versetzt. „Otto Techow“, murmle ich, und sie wiederholt: Techow, Otto“, als ob es wichtig wäre, den Architekten des Wasserturms von Neukölln zu kennen, dessen Zinnen von der Skyline der 70er-Jahre-Häuser in der Kopfstraße in weiter Vergröberung nachgemacht werden bis zur Zuckmayer-Schule, die wie der Wasserturm die Zeit zitiert, die sonst hier im Rollbergviertel in den 70er und 80er Jahren aus der Gegenwart gestrichen ist, damit sie auch aus der Vergangenheit ausscheide. Soweit sind wir aber noch gar nicht. Nach dem Wasser kam die Kanalisation, Mitte der 1890er Jahre, außerhalb des Hobrecht-Plans, der Berlin bestraßt und abgewässert hat, „aha“, sagt meine Kollegin, wenig interessiert für die Geschichte der Entwässerung, obwohl das ein Top-Thema ist: „Und was ist das?“, ruft sie. Vor dem Wasser und vor dem Abwasser war Kindl hier. Wir sind nach links in die Isarstraße eingebogen, um an dem schönen Stadtort zu verweilen, wo die Isar- als Neckarstraße wieder abwärts läuft und wo seit Anfang des Jahrhunderts die Synagoge stand, im Hof, jetzt „Königreichssaal“ hinter verschlossener Tür; zur Geschichte muss man klingeln und weiß nicht, ob man willkommen wäre. Die große Kachelwand: das ist Kindl von der anderen Seite, „ich kriege Durst!“ sagt die Kollegin, es riecht nach Bier. Die Kindl-Brauerei war hier oben, bevor Neukölln hier oben war, man sieht es. Kindl ist wie ein König, eine Herrschaftsanlage des kaufmännischen Selbstbewusstseins, gegründet 1873, populär wie eben das Bier hierzulande ist. Als wir die Neckar- hinunter und die Rollbergstraße wieder hinauf und ganz bis zu Ende gegangen sind, bis in das Stück, in dem sie als Sackgasse endet und man über den weiten Kindlplatz hinüberblicken muss, um zu ahnen, wo sie drüben weiter geht, sagte ich:
„Ach!“
„Und?“ fragt sie. Ich erinnere mich der Zeiten, in denen ich nicht auf Kohlehydrate achten musste; hinten in der Kopfstraße (zum Beispiel), durch die wir gleich spazieren werden, ins Hopfen-Stübchen zu den Inselbuben, da wäre ich doch gleich hinein:
„Ein Pils!“, ein Bier, zu dem das Adjektiv „schön“ so gut passt wie zu einer Frau. Das hätte ich vor den Ohren der selbstbewussten Kollegin nicht laut sagen dürfen; das hätte die Stimmung verdorben, die jetzt so bewundernd ist, als ich ihr das Sudhaus erkläre und den Turm, die Hans Claus und Richard Schepke zu Ende der 20er Jahre aus Bockhörner Klinker für Kindl hier hingesetzt haben. „Zwischen Kindl- und Wasserturm“, könnte man sagen, um das Rollbergviertel zu beschreiben, allerdings: nur geographisch, nicht geschichtlich, denn weder mit dem historisierenden Fortschritt von 1894 noch mit der neuen Sachlichkeit von 1928 haben die Bauten zwischen Werbellin-, Morus-, Kopf- und Falkstraße etwas Sichtbares zu tun.
„Aber etwas Unsichtbares?“ fragt sie wie eine brave Studentin, als wir über die Betonstufen von der Morusstraße über die tieferen Garagen am blauen Geländer entlang und über die graue Betonbrücke zu den Quadrathäusern hinübergehen, die in vier großen Karrees hier angeordnet sind um eine Fußgängerstraße, die schon auf den Plänen eine „Zone“ heißt, die Neuwedeller Straße verlängernd und in den Vor- und Rückblicken also Turm mit Turm verbindend.
Die Flugzeuge kommen kurz vor dem Tempelhofer Feld tiefer herunter, als man für möglich hält. Die
Kinder sehen nicht hin. Die Flugzeuge sind hier nicht mehr die Sensation; damals standen wir hinten auf dem Friedhof und zogen die Köpfe sein. Das erzähle ich ihr nicht, ich will sie nicht mit einem biografischen Damals-war’s an mein Alter erinnern.

„Drei Dinge muss man lernen“, sagt der kleine Junge mit den leuchtenden schwarzen Augen zu dem etwas größeren Mädchen mit dem glänzenden schwarzen Haar über die Rollerblades: „Erstens: die Beine sooo machen. Zweitens: die Hände sooo machen. Und drittens: du musst springen! Springen musst du!“
Die junge schöne Kollegin lächelt mich an. Ich bin versucht, dies Lächeln zu deuten. „Etwas Unsichtbares“, sage ich, „ja, ein Zusammenhang, der nur aus Geschichte besteht und natürlich auch aus Geschichten, aber Geschichten kenne ich von hier nicht.“ Wer durch die Neubauareale geht, die wir jetzt durchwandern, zweite Hälfte 70er Jahre, dem könnte man einen Satz zu bedenken geben wie diesen aus einem Architekten-Buch: „Nach der Reichsgründung und der wirtschaftlichen Aufschwungphase der Gründerjahre wird im Gebiet der Rollberge die erste Arbeitervorstadt Berlins geplant“. Das ist der Anführungszeichen-Aufschwung, der mit dem europäischen Bruderkrieg von 1870 begann und mit dem ersten Weltkrieg endete und der für die, die hier in der „Arbeitervorstand“ wohnten, Not und Elend bedeutete: viele Menschen in engen Räumen, Podest- oder Hoftoiletten, keine Badezimmer, engste Höfe; der Plan des Rollbergviertels von damals sieht aus wie der Plan eines Zellengefängnisses. 1817 hatten Deutsch- und Böhmisch Rixdorf 1000 Einwohner, 1872: 15.000, 1890: 35.000, 1899: 80.000, 1910: 238.000.
Junge! Junge!“ sagt die Kollegin.
„Aus dieser Zeit stammt das BGB!“, sagte ich, weil wir ja Juristen sind, Familienrechtler: „mit 200 Paragraphen über den ehelichen Güterstand, während 4/5 des Volkes kaum das Nötigste hatten. Das ist Berlin“, füge ich hinzu und schwenke den Arm zu den alternden Neubauten hinüber.
Sie versteht die Geste, glaube ich, mit der ich sagen will: Bevor „Stadt und Land“ hier alles abgerissen hat, was da war, und gebaut hat, was da ist, wohnten hier 13.000 Menschen, jetzt vielleicht 5000, in den vier Karrees ungefähr 2000 oder so. Es hatte einen Architektenwettbewerb gegeben, vor einer Jury, die auf Kahlschlag stand. 20 Jahre später weiß man manches besser. Die Architekten, die den Auftrag nicht kriegten, weil sie die Zukunft von heute vorausgesehen hatten, hießen Barzantny und Buhe.
Meine Kollegin guckt ein bisschen steglitzisch. Deshalb sage ich:
„Mein Vater sagte nach WK II: Fließend Wasser, Innentoilette und Zentralheizung! Alles andere ist Ästhetik, über die man sich streiten kann“.
Ganz so, allerdings, hat er es nicht gesagt. Der Mensch lebt nicht von Innentoiletten allein, sondern auch von Eckkneipen. Diesen letzten Satz sage ich noch laut, damit Steglitz ein bisschen was zum Lächeln hat, während wir über die Hermannstraße hinüber auf den Herrfurthplatz zugehen, über den ich hier das nächste Mal schreiben werde.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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