Insel im alten Wasser

Der Kudamm ist schon durch seinen Namen typisch Berlin. Eine Straße, die nach denen heißt, die den König wählten, allein durch Wortverkürzung nach den Kühen zu benennen, also die Kurfürsten auf sozusagen zeitsparende Weise in Rindvieh zu verwandeln – das ist ein Klassebeispiel für die trickreiche Respektlosigkeit, die die Berliner sich selbst fast noch bereitwilliger zubilligen als andere.
Das Straßendreieck, das seit den 1880er Jahren nach Halensee zu von Kudamm, Westfälischer und Paulsborner Straße gebildet wird, ist ein hochtypisches Stück Berlin, es liegt in mehreren Zeiten. Es liegt natürlich auch mitten in der Gegenwart. Wenn man morgen sagen wir mal – aus dem 119er an der Joachim-Friedrich-Straße aussteigt und hinhört, was die Menschen sagen, wenn sie die Polizeibewachung des türkischen Generalkonsulats an der Ecke Kudamm/Johann-Georg-Straße sehen, nein: das ist nicht alles druckreif. Von den weißen Platten des Eckhauses, das Eduscho, Meyer und das Bauhaus beherbergt, hängt über der Bank, auf der sich sonst die Penner versammeln, weil gegenüber die evangelische Stadtmission ein Café für Obdachlose betreibt, sinnend auf der Stadt Bestes, wahrhaftig, der türkische Halbmond und hinter den weiß-roten Polizeigittern stehen die Staatsbürger der Türkei an, um durch die deutschen Kordons zu ihren Stempeln zu kommen.

Es ist ein sehr aktueller Platz der deutschen Geschichte: ein Geschichtshappening; was man darüber denken soll, weiß man nicht immer. Ich bin die Westfälische Straße herunter gekommen; seit 1888 verläuft sie hier, das war das Jahr der drei Kaiser, Wilhelm I. starb, nach 99 Tagen auch Friedrich III., die ehemalige liberale Hohenzollernhoffnung, Abgang durch Kehlkopfkrebs, Wilhelm II. kam ran, der Bismarck entsetzte und alles tat, damit ein Weltkrieg zustande kam. Anfangs also wuchs Berlin kaiserlich an, bis es kaiserlich unterging.
Aber dann nach ein paar Jahren schon wieder auf. Das haben wir hier alles in ein paar Schritten. Vorbei an der Hochmeisterkirche, 1908-1910 gebaut, nach den Hochmeistern des Deutschen Ordens genannt, die nach Osten ritten, das Christentum verbreitend mit Feuer und Schwert, merkwürdige Namensgeber, über den Hochmeisterplatz, einen wellenförmig gewiesten Platz, hinterm Kinderspielplatz und heranreichend an Willy Hoffmanns in halbrunden Halbtürmen endendes Postgebäude von 1930; der Charme dieses Wiesen-Platzes ist an Sommersonnabenden am dichtesten, wenn manche schöne Barbusige sich hier zeigt, indem sie sich zu verstecken vorgibt. Auf seiner westlichen Seite verläuft die Nestor-, auf seiner östlichen die Cicerostraße. Wenn man unten am Lehniner Platz steht, 2, 3 Minuten von hier, steht man gerade an der Grenze von Charlottenburg und Wilmersdorf; lange ist das keine Grenze mehr, sie fällt sowieso als Grenze nicht auf. Die Charlottenburger Straßen heißen nach Wissenschaftlern, die Wilmersdorfer nach Kurfürsten des 15. und 16. Jahrhunderts, mit Eisenzahn beginnend, leicht erklärlicher Kurfürstenbeiname, bis Johann Sigismund, kurz bevor Kudamm und Westfälische Straße am Henriettenplatz zusammenlaufen, der ebenfalls hohenzollerngeschichtliche Bedeutung hat so wie hier die Nestorstraße: der als Nestor bebeinamte Kurfürst soll einer der gebildetsten Männer des Jahrhunderts gewesen sein – und der erste Hohenzoller, der Berliner Juden aus Berlin vertrieb, 1510 … in aller Ruhe schreibt das das Lexikon nebeneinander. Cicero, der Kurfürst auf der anderen Seite, konnte – sagt man – auch gut Latein, hat das Gymnasium zum Grauen Kloster gegründet oder ein anderes Gymnasium oder die Universität. Das weiß man heute nicht mehr so genau und muss es nicht wissen. Die Kurfürstenverehrung, die zu der Straßenbenamung führte, stammt von der Kurfürstendamm-Entwicklungsgesellschaft, die am Ende des 19. Jahrhunderts die Gegend erschloss, bis in den Grunewald hinein, heftig spekulierend, auch wohl bestechend und betrügend, mit allem, was dazugehört, wenn Städte rasch wachsen und Metropolen werden wollen. Man sieht es vielen Bauten hier an, wie am Ende des 19. Jahrhunderts sich Preußen/Deutschland das Aussehen einer Weltstadt vorstellte, schnell ein Stück Geschichte entliehen ohne Rückgabevorsatz und an die Fassade geklebt, um eine Geschichte vorzutäuschen, die das Land eben nicht hatte, Häuserfassaden aus Romanik, Gotik, Barock, Rokoko … nein, Rokoko gerade nicht, obwohl der Neuerer, dem der Spaziergänger nun hier im unteren Teil der Cicerostraße begegnet, gerade auf Rokoko anspielte in einer damals oft zitierten Bemerkung, mit der er beschrieb, wogegen er anbaute, also woran er eben nicht anbauen wollte: In den 20er Jahren hob Berlin, nachdem es seinen 1. Weltstadtversuch mit dem 1. Weltkrieg blutig beendet hatte, zu einem zweiten Versuch an. Auf ein paar Straßenmetern Cicero ist der Spaziergänger also in einen zweiten geschichtlichen Akt übergewechselt, denn nun hat er die Wohnblocks von Erich Mendelsohn vor sich, die breiten gewellten Backsteinbänder zwischen warmhellen Putzstreifen: ein edler Anblick; ich finde, „edel“ darf gesagt werden. Erich Mendelsohn baute für Hans Lachmann-Mosse, seine Wohnhausgrundstücksverwertungs AG (Woga), mit dem Universum-Kino am Lehniner Platz, mit diesen eleganten Wohnblocks und dem Appartementhaus rechtwinklig am Ende, zur Albrecht-Achilles-Straße mit dem Kabarett der Komiker, heute Spielothek, Billard und ein bisschen puffig, 1925 bis 1931: ein architektonisches Spitzenensemble der Moderne, die nun längst durch Post-Moderne abgelöst ist, die hier überall ihre architektonischen Spuren hinterlassen hat, nicht weiter zu kritisieren, eine Stadt ist keine stilgeschichtliche Veranstaltung. „Kein Rokoko für Buster Keaton!“ schrieb Erich Mendelsohn, das war sein Programm: „Aber keine Angst auch! Keine trockene Sachlichkeit … Phantasie, Phantasie – aber kein Tollhaus Kino unten, heute Schaubühne, nachdem Jürgen Sawade in den 70er Jahren das damals bereits verfallende Kino umgebaut hatte, in Wirklichkeit blieb kaum ein Stein auf dem anderen, von Mendelsohn blieb nur die Hülle, aber die steht jetzt 70 Jahre hier. Als er damit fertig war, ließen die Deutschen Mendelsohn nur noch knappe drei Jahre einen Deutschen sein. Er ist als Anglo-Amerikaner gestorben; zu seinen letzten Werken gehört der Entwurf eines Mahnmals für die sechs Millionen ermordeter Juden, vorgesehen für den Riverside Park in New York, es ist auch nichts geworden. Sollte man nicht diesen Entwurf jetzt in Berlin Wirklichkeit werden lassen? denke ich, während ich nun am Lehniner Platz stehe und versuche, mich von der Stimmung in Stimmung bringen zu lassen.

Viele Lokale, na klar, es ist ja der Kudamm, von Wienerwald bis Ciao-Ciao, das in Mendelsohns Eckhaus versucht, sich eine In-Anmutung zu geben. Auf der Privatstraße, die die beiden Mendelsohn-Komplexe trennt und hinten zu den Wohnblocks von Jürgen Bachmann führt, dem Lachmann-Mosse erst den ganzen Auftrag hatte geben wollen, üben Rollerblader, die der Jugend eigentlich schon entwachsen sind, aber die Freunde sitzen in ihren Kudamm-Autos und spenden Beifall. ich habe viele Jahre meines Lebens, meines jugendlichen und jetzt meines endenden, in dieser Gegend verbracht, und wenn ich sie auch wegen der raschen Veränderlichkeit nicht als heimatlich beschreiben würde, so steht sie mir doch nahe. Ich gehe halenseewärts, wieder auf die anti-kurdischen Absperrungen zu, die den halben Kudamm verschließen. Dort, weiß ich, an der eigentlichen Bushaltestelle, an der ich sonst täglich auf den 119er, 129er, 110er, 219er warte, liegt eine Bronzeplatte, man steht manchmal einfach drauf und sieht sie gar nicht. Sie erinnert an Rudi Dutschke, den Studentenführer, der 1968 im April hier von einem anderen jungen Mann angeschossen wurde; an den Verletzungen ist er später gestorben. Ich versuche, mir die wilhelminische Ruine in die Erinnerung zu rufen, die an der Stelle des türkischen Generalkonsulats stand; der SDS, sozialistische Studentenbund, hatte hier seine Geschäftsstelle. Es gab sofort eine Demo, Tausende liefen mit; Jagusch, der Fotograf, musste an der Yorckbrücke schon aufgeben, er hatte sich gerade HushPappies gekauft, weiche Schuhe, um durchzuhalten, aber doch Blasen gekriegt, keinen Schritt kam er mehr weiter. Vorgestern hat er für diesen Text hier die Fotos … geschossen, wollen wir gar nicht sagen. „Iss mir noch gar nich aufgefallen“, sagte der Maschinenpistolen-Polizist, der ihn freundlich durchließ. Die Himmel wechseln ihre Sterne. Mendelsohns Gebäude, hat ein zeitgenössischer Kritiker geschrieben, liegen in dieser Gegend wie eine Insel in den alten Wassern des Kurfürstendamms. Etwas Inselhaftes hat das Gebäudeensemble immer noch, aber unterdessen wirkt es eher älter als die Wasser (lassen wirs bei dem Naturvergleich), die über den Kudamm fließen.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Colin Smith on geo.hlipp.de / CC BY-SA 2.0

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