Inkonsequent, unbeweglich, schwer. Subjektiv

Anfahrt mit der U5. Die U5 ist eine Ostberliner U-Bahn wie die U7 eine Westberliner. Die Linien sind in der unbegreiflichen Zeit der Teilung der Stadt entstanden. Wenn ich mit der U5 fahre, habe ich das Gefühl, in einer anderen Stadt zu sein. Am Frankfurter Tor tauche ich ab, am Tierpark komme ich wieder hervor. Hans-Loch-Viertel, sagte man früher zu dieser Stadtgegend. Hans Loch ist jetzt aus der Erinnerung gestrichen. Er gehört zu dem Teil der Geschichte, der nicht mehr gilt.
Ein flaches, leuchtreklamiges Einkaufshaus verändert die Gegend; wahrscheinlich kann man sagen: verbessert sie, macht sie bequemer, jedenfalls wärmer an Tagen wie diesem Februarmontag, an dem der kalte Wind schneidend um die Ecken fährt. Das Wort „Wärmenetz“ kommt mir in diesem Zusammenhang fast innerlich vor. Wärmenetzerweiterung betreibt die Bewag im Erieseering. „Bewag Wärme, reine Wärme“, heißt der Werbeslogan, als gäbe es auch Wärme, die unrein ist, Wärme vielleicht, die anderen gestohlen ist, die nun an unserer statt frieren?
Damit überquere ich die Sewanstraße, früher nach Hans Loch genannt, dem Liberaldemokraten, noch früher nach der Vieh-Trift, jetzt eben nach einem See in Armenien: eine lebhafte Autostraße, hinter deren Fluchtlinie die Plattenbauten aus DDR-Zeiten Unter- und Nebenstraßen bilden. Viele der Hochbauten sind renoviert; Blau ist die vorherrschende Erneuerungsfarbe: die metaphysische Farbe, die oft noch etwas anderes bedeutet als Bunt, zum Beispiel Himmel, allgemeines Darüberhinaus, manche halten sie für kühl und wenig herzlich. Das Grau der Splanemann-Siedlung, die nun an der Südostseite der oberen Sewanstraße beginnt, ist zur Zeit überhaupt keine Farbe. Die Splanemann-Siedlung braucht einen neuen Anstrich. Ich bin dafür, dass sie tautsche Farben erhält; vielleicht die Fassaden sanftes Grün, die Fenster umrandet mit vorsichtigen Strichen aus schmalem Rot und Gelb. Die Ursprungsfarbe war Rotbraun, die Fenster weiß abgesetzt. Einen offiziellen Namen hat diese ums Halbrund der Splanemannstraße geordnete Siedlung nicht; nach dem Antifaschisten Splanemann, der in der Nähe gewohnt hatte, bis seine Mitbürger ihn ermordeten, nannte man sie inoffiziell in DDR-Zeiten; aber die Siedlung ist viel älter; Kriegerheimstraße hieß der Rundweg ursprünglich, 1925 geplant von den Architekten Primke und Goettel vor allem für Kriegsbeschädigte; 1926 bis 1930 in veränderter Form gebaut von Martin Wagner, dem berühmten SPD-Stadtbaurat von Berlin. Nicht der städtebauliche Plan jedoch, nicht die Anordnung der ein- bis dreistöckigen Häuser um den kleingärtnerisch genutzten Innenhof, nicht das Stadtrandarrangement an den Kleingartenkolonien, die sich vom Betriebsbahnhof Rummelsburg heraufziehen: nicht dies ist es, was diese Siedlung in die Bücher und in den allerdings ziemlich scheinbaren Denkmalsschutz bringt. Sondern die Materialien und die Baumethode: „Patent Bron“, eine holländische Erfindung: die erste Plattenbausiedlung in Deutschland. Man sieht die Platten ganz deutlich wie sie die Häuser grob gliedern und ihnen eine Mächtigkeit verleihen, der ihre Eigenheimlichkeit nicht gewachsen ist. Die Aktion war ein Fehlschlag. Martin Wagner hatte sich eingebildet, das industrielle Bauen beschleunige und verbillige den Bauprozess; aber damit war’s nichts. Vorfertigung und Montage inkonsequent, Serien zu klein, Platten zu schwer, der Baukran zu unbeweglich. Seitdem, wird behauptet, hat sich der Plattenbau niemals in Deutschland nachhaltig gelohnt, auch in der DDR nicht, auch nicht unter der Bedingung der Verstaatlichung der Bauindustrie, Martin Wagner hatte von einer genossenschaftlichen Bauindustrie geträumt. Indem ich an diesem in den Abend übergehenden grauen Februarnachmittag durch die Splanemannstraße gehe, kann ich also das Gefühl haben, mich an einem gesellschaftlichen Geburtsort zu befinden; mitten in diesem Verfall war ein Anfang. Bestritten von Anfang an, „Widerstand leisten!“ hatte die „Bauwelt“ schon 1930 gerufen. Das liegt alles ein Dreivierteljahrhundert zurück. War nun der Stadtbaurat geschichtlich erfolgreich oder dieser „Widerstand“? Wer sich aus der Splanemannstraße umsieht in die nördlichen und südlichen Himmelsrichtungen sieht Plattenbauten, die anfangen, wieder frisch auszusehen, mächtiggewachsene Splanemann-Kinder, könnte man sagen, im großen Stadtbau-Bogen um diese Elternsiedlung herumgelegt, aus der man sie sich herausgewachsen denken kann. Anfangs soll es Auseinandersetzungen zwischen den Splanemann-Bewohnern und der Hans-Loch-Bevölkerung gegeben haben. Wirklich?

Mit niedrigen Garagenbaracken endet die Splanemann-Siedlung am Bahndamm. Wenn man durch die Unterführung hindurch ist, auf dem pfützigen schwarzen Weg durch das Datschen-Areal, ist die Stimmung augenblicklich verändert. Die Ruhe der „Kolonie Hochspannung“ fasst die Plattensiedlungen hinten und drüben von weitem zusammen und gibt dem Stadtgebiet rasch eine unvermutete Geschlossenheit. Die Hochspannungsleitung verläuft mächtig über die Gärten dahin und auch noch an der Ilsestraße entlang, nach deren östlicher Seite sich um zwei weite Innenhöfe eine dreistöckige Wohnanlage erstreckt, die wenn sie erst den Schmutz der Zeiten los ist – auch selbstbewusster wirken wird als jetzt. Ich gehe den Trampelpfad über den windigen Hof, erreiche die Marksburgstraße, die sich mit der Lisztstraße und der Sangeallee zu einem kleinen Platz zusammenschließt, hinter dem Karlshorst alsbald den geschlossenen Charakter intimer Bürgerlichkeit annimmt. Diese Stadtgegend, durch die ich nun auf der Hentigstraße passiere, die nach einem königlichen Minister heißt, ergänzt sich sozusagen täglich; hier versammeln sich ganz andere Traditionen als oben, woher ich komme; und die S3, mit der ich von Karlshorst bis zum Savignyplatz nach Hause fahre, scheint mir ein ganz anders gestimmtes Verkehrsmittel als die viel jüngere U5 von vorhin. Aber das geht anderen anders. Die Objektivität der Stadt ist ein Kaleidoskop von Subjektivismen.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Marsupium / CC0 1.0

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