Woher, wohin: Durch die Lindenstraße

In einem vergangenen Leben war ich auch Kammergerichtsrat. Ich kannte Kammergerichtsräte. Was ein Kammergerichtsrat dagegen auch sein kann, weiß ich von Hoffmann. E.T.A. Hoffmann, das Universalgenie, in dessen Brust die Dämonen wüteten, war Jurist; nicht nur ein Nebenbei- und Auch-Jurist, sondern ein Spitzenmann; seit April 1816 Richter am Kammergericht, seit Dezember 1821 Mitglied des Oberappellations-Senats des Kammergerichts, also einer der sechs höchsten Richter Preußens, „selten wird es ihm ein Geschäftsmann an lichtvoller Darstellung, edler Schreibart und an Scharfsinn zuvorthun“, schrieb der Präsident, der wusste, wer da neben ihm auf der Richterbank saß. Diese Richterbank stand hier in der Lindenstraße.
Das Kammergericht in der Lindenstraße, das jetzt so schön im theresianischen Gelb dasteht als Museums-Gebäude, um Gegenstände zu umschließen, zu denen keine Wirklichkeit mehr gehört, sieht jetzt viel harmloser aus, als es zu Hoffmanns Zeiten auszusehen hatte. So einfach durfte man es sich nicht machen, dass man ein Gärtchen an der Rückfront nach dem großen Geisterbändiger benennt und meint, nun dürfte man das Ganze ansehen wie Goethes Gartenhaus. Die Geschichte, die das Berliner Stadtmuseum hier nun festzubinden hofft, hängt an einem sehr losen Bewusstseinsfaden.

Die Lindenstraße fängt an der Gitschiner Straße ganz anders an, als sie in Kammergerichtsnähe jetzt zu wirken versucht. Die Gitschiner Straße hieß, solange die Stadtmauer hier noch stand, Hellweg, weil die Morgensonne den Weg schon mit den ersten Strahlen beschien, als die Stadt hinter der Mauer noch im Dunkeln lag. Niemand, glücklicherweise, weiß noch was von der Schlacht bei Gitschin: die Preußen schlugen die Österreicher und Sachsen; der Weg war frei nach Königgrätz, wo die Herren triumphieren konnten, die oben am Großen Stern, in der Nähe des Bundespräsidenten, um die Siegesäule stehen und die Kanonen anblicken, mit denen sie Deutsche erschießen ließen: solche Namen aus dem öffentlichen Gedächtnis auszulöschen, darauf kommt kein Offizieller, das Vergessen müssen wir allein bewirken. Wir solltens uns zur Lehre dienen lassen: Was man uns hinstellt, damit wir erinnern, das müssen wir erst auf seine Erinnerungswürdigkeit prüfen.

Unter der Hochbahn, einem Werk von Siemens, geht man hindurch, wenn man über den Landwehrkanal heraufkommt. Diese Bahn, die zur Lindenstraße das Straßentor macht, ist jetzt bald hundert Jahre alt; fast die Hälfte dieses Jahrhunderts endete sie diesseits der Spree, in einer Sackgasse sozusagen. Die Geschichte der Stadttrennung war viel länger, als mancher 1989 dachte, sie umfasste mehr als eine ganze Generation Vergessen und staatlich-hoheitliches Verfälschen. Ich sehe die gelben Züge gern, vor allem, wenn – wie an diesem Sonnabend – ein bisschen Sonne hinter dem Stadtnebel liegt; das leuchtende Gelb der U1 hat in solcher Stimmung was Aufhebendes; ich bleibe unter den Schienen stehen, um das Rumpeln über meinem Kopf… ich will nicht sagen: zu genießen, aber das Großstadt-Geräusch in mich aufzunehmen, mit dem die Gegenwart zwanzigmal in der Stunde mitten durch Kreuzberg zieht, um in Friedrichshain zu enden, am anderen Ufer, das nach Warschau heißt, wo E.T.A. Hoffmann, unser Held aus der Lindenstraße, ebenfalls gearbeitet hat als preußischer Justizbeamter: Wer soll sich noch zu solchen Assoziationen veranlasst fühlen? Niemand! Bloß nicht! Geschichte ist das, was vergessen ist.
Rechts liegt an diesem südlichen Eingang in die Lindenstraße das Patentamts-Gebäude. Das Adjektiv des Patentamts heißt jetzt: „europäisch“ und das Signet, das über der Tür golden prangt, sieht wie ein Auge aus, unter doppelten Lidern und viel Schlaf. Auf dem Straßendreieck, das Lindenstraße und Alte Jakobstraße bilden, steht eines der schönsten öffentlichen Gebäude Berlins: das Haus des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, 1929/30 von Erich Mendelsohn gebaut, ein Beispielshaus, in allen Architekturbüchern, neue Sachlichkeit, Expressionismus; der Glaserker vor dem oberen Geschoss der Sitzungssäle, setzt sich als Fahnenmast fort und die rot-schwarze Fahne der IG Metall flattert dort, als ob diese größte Industrie-Gewerkschaft der Welt auch heute noch wäre, was sie vielleicht mal war. Ach nein, so will ich über die deutschen Gewerkschaften gar nicht zu reden anfangen; wer wollte 1999 mit 1930 so vergleichen, dass der Saldo zugunsten der 30-er Jahre ausfiele?

Dass Erich Mendelsohn ein größerer Architekt war als Bofinger, der das Gewerkschafts-Haus an der Wilhelmstraße in den 90-ern für die SPD ein bißchen nachbaute, das ist zufällig. Es stimmt nicht, dass „das Alte“ schöner ist als das Neue, wenn manche Nostalgiker, von denen es in Berlin einen ganzen Verein gibt, das auch glauben machen wollen. In den 80-ern ist um das Kammergericht in der Lindenstraße, das jetzt bald 175 Jahre alt ist, gewohnbaut worden: Lindenstraße 81 bis 84 Wohnhof von Hermann Hertzberg, 84 bis 86 Wohnpark von vielen, dreihundertelf Wohnungen insgesamt, sozialer Wohnungsbau, im Rahmen der zweiten, misslungenen Internationalen Bauausstellung, angelehnt an das Gebäude der Victoria Versicherung, aus dem ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts, das in Vorbombenzeiten, von denen wir ja auch nichts mehr wissen, zwölf Höfe umschloss, für über dreitausend Bürokraten.

Ich stehe jetzt in der Neuenburger Straße, die zur Lindenstraße für die Autos nicht durchlässig ist. Wenn ich Wehmut empfände (denn das soll das Straßenbenennungs-Gefühl gewesen sein), dann gewiss nicht darüber, dass Neuenburg nicht mehr zu Preußen gehört, sondern zur freien Schweiz. Die Gegend wirkt offen; auf mich wirkt sie immer noch zerstört, die Neubauten machen einen melancholischen Eindruck, man sieht zu deutlich, was man nicht sieht. Der Blick ist trotzdem eindrucksvoll: nach Süden in die ausgebreiteten Arme von Mendelsohn, nach Norden auf die silbrige Haut des Jüdischen Museums, das an diesem Sonnabend eröffnet wird, kann man nicht sagen. Es steht ein Staatsakt bevor, mit viel Polizei.
Ich werde skeptisch betrachtet von jungen Polizisten. Unfreundlich wirken sie nicht. Ich weiß ungefähr, wie ihre Bewusstseinslage ist. Die Mitteilungen ihrer Chefs blieben im Ungefähren; die Meinungen bildeten sich in den Umziehräumen vor den Spinden. Der Bundeskanzler kommt, gegen den Direktor des Jüdischen Museums soll es Attentats-Drohungen geben. Das Jüdische Museum ist schon weltberühmt, ehe es die Berliner richtig zur Kenntnis genommen haben. Das Gebäude. Das Museum selbst gibt es noch gar nicht. Man hat nicht genug Gegenstände, die man ausstellen könnte. Wir lassen uns Häuser für Erinnerungen bauen, die wir gar nicht haben. Oben am Holocaust-Mahnmal wird es wohl ebenso werden; ein Haus für Bücher wird da eben in den USA entworfen, die wir erst noch suchen müssen. Wo? Wer?

Die Lindenstraße führt aus einer tiefen Vergangenheit in eine Gegenwart, die über Untiefen verläuft. Ich drehe nach links ab, Franz-Klühs-Straße. Franz Klühs war der letzte Chefredakteur des „Vorwärts“ vor den Nazis; nach den Nazis ist es mit dieser sozialdemokratischen Zeitung nichts Rechtes mehr geworden. Die Lindenstraße endet vor der Kommandantenstraße als Axel-Springer-Straße: BILD dir deine Meinung!

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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