Architekt und Lehrer

Mit der U7 brauche ich von unserer Redaktion an der Möckernbrücke bis in die Mitte der Gropiusstadt, bis zum U-Bahnhof Lipschitzallee, gerade mal zwanzig Minuten; wenn ich von Spandau gekommen wäre, hätte ich eine knappe Stunde gebraucht: unter dem ganzen Westberlin hindurch. Mit der Gropiusstadt hat Westberlin die Reihe der gesamtberliner Stadtrandsiedlungen, Plattenstädte, begonnen: Gropiusstadt 1962 bis 1975; Märkisches Viertel 1963 bis 1974; Thermometersiedlung 1968 bis 1974; dann Fennpfuhl 1972 bis 1986, Marzahn 1980 bis in die 90er Jahre. In der Gropiusstadt heißen viele Straßen nach Sozialdemokraten, die Namen sind noch da; in Marzahn/Hohenschönhausen hießen viele nach Kommunisten, viele dieser Namen sind weg; die Geschichte wechselt ihre Helden. Joachim Lipschitz war zuletzt Senator für Inneres; als er starb, war von den Häusern hier noch keines da. Wer weiß, wieviele von denen, die an diesem regnerischen Nachmittag am Bahnhof Lipschitzallee aussteigen, wissen, wer Lipschitz war und wieviele es überhaupt wissen wollen. Zwischen den hochstöckigen Häusern liegen die flachen, in denen das Soziale und das Städtische unterkommt. Der kleine Platz, auf den die U-Bahn-Ausgänge führen, nennt sich ein Centrum. Im Eduscho am Centrum arbeiten freundliche Frauen. Im Café bin ich der einzige Mann. Die Nachbarinnen hinten sind in eifrigem Gespräch.
„Also ich fahr gerne mit U- und S-Bahn. Da wees man wenigsten, datt man in de Großstadt wohnt. Busse gibt’s doch überall.“
„Bloß: Auf dem U-Bahnhof, wo keene Menschen mehr sinn, iss keene Sicherheit.“
„Ach, watt, Sicherheit! Sicherheit in dem Sinn iss doch nirgendwo. Neulich ham sie ne Frau hier vor Edeka det Geld geklaut, und alle standen dabei und ham weggeguckt. Hat keener gesacht: Soll ich Ihnen helfen. Ick helf doch ooch nich. Dett iss die Sicherheit … dett wir alle weggucken! Dett iss ett!“
„So gesehn ham Sie recht, muss ich zugeben. Aber deshalb fahr ich abends trotzdem nich mit der U-Bahn, wo kein Mensch aufm Bahnhof iss.“
„Guck mal da drüben der … mit dem Ding. Wie heißen die Dinger, die wie ne Fernbedienung aussehn unn die man in die Tasche stecken kann?“
„Handy gloob ich.“
„Handy, ja. Obwohl dett unlogisch iss. In die Hand muss ich mein Telefon doch ooch nehm…“
Und so weiter; taffe Frauen; die Schau ist bühnenreif. Die Kuchenauswahl ist groß; die Bedienung freundlich, das Ganze ist sehr berlinisch. „Neukölln ist die Hauptstadt von Berlin“, habe ich neulich geschrieben, das stimmt auch hier draußen. Berlin ist, wo die Berliner sind, oder besser noch: die Berlinerinnen.

Von der Lipschitzallee in den Ulrich-von-Hassell-Weg; „Widerstandskämpfer“, ist alles, was das Straßenerklärungsschild über Ulrich von Hassell sagt; nein, das war kein Sozi; vielleicht nicht mal ein Demokrat; Diplomat, Botschafter. Die Straße endet als Sackgasse; für Fußgänger geht es weiter über einen schwarzen Weg, durch ein kleines Gehölz, das mitten zwischen den Hochstöckern ein kleines landschaftliches Gefühl verbreitet. Es ist gleich vier, es wird dunkel. Das große gerundete Haus am Wildmeisterweg liegt amphitheatralisch vor mir; im An-und-aus der Lichter entfaltet es einen Glitzerzirkus.
„Sehn Se mal die drei Mülltüten dort“, sagt die Frau mit Hund, der meinen Schirm anbellt und darauf belehrt wird:
„Hasde noch nie nen Schirm gesehn? Der iss gegen Regen, nich zum Verhaun … Sehn Sie mal die drei Mülltüten dort! Auf’n Kinderspielplatz! Solche geisteskranken Typen wohn hier!“
„Es iss gar nich mal gesacht, ob die hier wohn!“, sagt die Nachbarin.“
„Denn müssen die ja noch viel geisteskranker sein, wenn se erst noch hierher fahrn, um ihrn Müll auf unsern Kinderspielplatz abzustelln!“

Das Amphitheater-Haus ist von Walter Gropius. Auch das Punkthochhaus daneben, an dem die vorgezogenen Erker hängen, als ob sie beweglich wären. Walter Gropius, nach dem das ganze Viertel heißt, gibt der architektonischen Moderne den Namen. Ein Berliner, 1883 bis 1969, gestorben als Amerikaner; „Bauhaus“ nannte er die Schule, die unter seiner Direktion eine kurze lebhafte Geschichte von Weimar bis Dessau erlebt hat. 1960 hat Walter Gropius einen Städtebauplan für dieses Neuköllner Wiesengebiet entworfen, den die Stadt Berlin nicht verwirklicht hat. Es blieben für Gropius: Das Halb-Rundhaus, das Hochhaus, ein paar Neungeschosser und der Name. Was wissen die Leute hier von Walter Gropius? Ach, denke ich, das ist doch längst nicht die Frage. Was wusste Walter Gropius von den Leuten, für die er hier geplant und gebaut hat? Für wen ist die Moderne modern? Für die, die Bücher schreiben und der Zeit sagen, wie sie heißen soll? Oder für die, die froh sein müssen, wenn sie irgendwo eine Wohnung kriegen, die sie bezahlen können? In der sie ihre Kinder groß ziehen können und die auch fürs Alter was ist? Und die in der Nähe einen Platz bietet, an dem man mit seinen Compagneros das Leben betrachten kann, das man hier zuende lebt?

„Wat iss Windstärke vier an der See?“, sagt die lebenserprobte Frau bei Eduscho, „aber wat iss Windstärke vier hier? Die Hochhäuser machen Sturm aus dem kleinsten Wind. Macht ja nix, man muss sich bloß drauf einstelln. Wer hier wohnt, der muss was vom Wind verstehn!“
Im Schutz des Parkhauses ist es ruhig, der Wind ist weiter oben. Den Walter-May-Weg nehme ich, weil nach ihm das europaberühmte Sozialpädagogische Institut der AWO heißt, in dessen Vorstand ich ein Leben lang bin. Löwenstein, Kerschensteiner, Gaudig, Straßennamensgeber hier, alles linke Pädagogen, Schul- und Bildungstheoretiker; ich will durch den Anna-Siemsen-Weg gehen; meine Mutter hat Anna Siemsen als Lehrerin gehabt; eine mutige Frau, Reichstagsabgeordnete USPD, SPD, bis 33. Der Anna-Siemsen-Weg wirkt privat, geordnet, geschützt. Hinten öffnet sich das grüne Tor zu einem Parkplatz, daneben eine gelbliche Halle: sieht aus wie irgendwas; es ist die Gropius-Passage, ein Einkaufszentrum vom besten und größten. Was ist der Unterschied zwischen den Gropius-Passagen, dem Europa-Center und den Potsdamer-Platz-Arkaden, den exklusiven Großstädtischkeiten? Die Großstadt ist genauso gut hier. Es gibt aus den Shops und Inns einen direkten Weg in die U-Bahn, nur ein ganz kleines Stück wirklichen Himmels hat man da über sich, und schon ist man wieder unten und drinnen.
An der U-Bahnhof-Tür steht: Walter Gropius war ein „Architekt und Lehrer“; Lehrer … gefällt mir. Mein Vater war auch Lehrer. Er hat es jederzeit gut gemeint mit den Menschen. Das hoffe ich von Walter Gropius, auch; im Alter trug er oft eine gestreifte Fliege und sah melancholisch aus.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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