Die Birken von Biesdorf

Ich erlaube mir einen langen Anmarsch. Auf der Allee der Kosmonauten, die tatsächlich etwas halbwegs Umrundendes hat, überquere ich die Märkische Allee, zwischen der und jener der weltberühmte Teil von Marzahn liegt wie eine Insel zwischen Flüssen.
Das Eigenartige an solchen Schnellvierteln ist, dass sie die Stadt in Häuser auflösen: nach außen hin zeigen sie eine singularisierte Kollektivität, die sich drinnen buchstäblich bis an die Wohnungstüren erhält. Und hinter diesen Türen – aber das (vermute ich) ist in Marzahn nicht anders als in Zehlendorf – breitet sich jene Alltagskollektivität aus, der wir alle schon deshalb unterliegen, weil wir alle tagein-tagaus dasselbe Fernsehprogramm betrachten, wenn die Stadt mit ihren Kleingärten unter unseren Wohntürmen, um unsere Einfamilien-, Reihenhäuser, Villen ins Dunkel versunken ist.
Aber jetzt ist heller Nachmittag, es regnet gerade nicht, ich biege in die Luise-Zietz-Straße ein, um durch das Einfamilienhaus-Marzahn zu wandern, das manchmal gar nicht wie Berlin aussieht. Berlin besteht aus Berlin und Nichtberlin. Die Stadt, die beschrieben, und die Stadt, die bewohnt wird, das ist nicht dieselbe. Berlin ist, wo die Berliner sind. Und hier, um den S-Bahnhof Biesdorf, wo ich jetzt durch einen stillen Fußweg hinter dem Hafersteig angelangt bin, sind viele Berliner.

Ich stehe auf der Hochbrücke, die die S-Bahnsteige zugänglich macht und über die man nach Süden kommt; ich genieße – wirklich! – den weiten Blick die S-Bahnschienen entlang zum westlichen Horizont, wo hinten das Berlin des Baedekers liegt. Sechsundsechzig Seiten im aktuellen Baedeker über Mitte, eineinhalb Seiten über Marzahn, eine Seite über Hellersdorf, auf diesen zweieinhalb Seiten wohnen an 300.000 Berliner, auf jenen sechsundsechzig nur 80.000.
Der Zug der S5, der gerade unter mir hält, um Menschen, die das Zentrum für heute hinter sich haben, in den Feierabend zu entlassen, wirkt wie … wie … wie denn? Ich suche nach einem Bild, nach einem Vergleich, aber es gibt nichts zu vergleichen; das von seinen Trams, Bussen, Untergrund-, Hoch-, Stadt-, Schnell- und Regionalbahnen durchquerte Berlin ist überall vergleichslos es selbst.

„Schlosscafé“ oder so ähnlich steht an einer niedrigen Bude auf der nördlichen S-Bahnseite, auf der das Schloss gar nicht liegt, daneben ein Neubau, eingerüstet, die hohen Wohnblocks in den bunten Renovierungsfarben ganz hinten, die Gegend hat sich noch nicht entschieden, wie sie werden will. Vielmehr: Sie ist, wie sie ist. Ein endgültiges Zwischenreich.
Die Oberfeldstraße zieht sich weit hin. Der Name klingt, als ob die Straße befördert sei. Aber es ist eine Grund- und Ursprungsstraße der Gegend. Einen Weg gibt es hier seit einem halben Jahrtausend. Heute kann man ihn gehen fast von der Stelle, wo die Allee der Kosmonauten ihre große Halbumrundung beginnt, von der Elisabethstraße, durch Biesdorf-Nord, durch Biesdorf-Zentrum – soll man Zentrum sagen? – über die B1, weiter über den Grabensprung, nach Biesdorf-Süd, Am Fuchsberg, da trennen einen nur noch S-Bahn und Kleingärten von Karlshorst.
In dem weiträumigen Hof, den ich jetzt in der Blocksiedlung an der unteren Oberfeldstraße durchwandere, stehen die Teppichstangen wie Fußballtore auf einem Fußballplatz ohne Spielfeld. Sind das etwa Lichtenbergs Messer ohne Scheide, denen der Knauf fehlt? Keinswegs! Es ist eine ruhige Jedermanns-Wohnsiedlung um schön benannte Straßen: Nordpromenade, Wildrosen-, Parkweg, also direkt am Schlosspark.
Der Schlosspark Biesdorf zieht sich von hier nach Norden und Süden hin in langen Alleen, die jetzt die Unvergleichlichkeit ausstrahlen, die Alleen aus schwarzen blätterlosen Bäumen in vielen Novembern haben; nun zitiert sie sogar der Bundeskanzler. Wer jetzt allein ist … aber ob man jetzt allein ist oder im Frühling: Alleinsein ist jederzeit nichts für den Menschen. Wer Einsamkeit um sich legt, weil er das Geld dazu hat, der Herr Siemens zum Beispiel, der Schloss und Park hier kaufte, der wird schließlich durch die Alleen, hin und her, ruhlos wandern, wenn die Blätter treiben.

Das Schloss ist 130 Jahre alt, ein Gründerzeit-Pseudoschloss, von Gropius, dem alten, und Schmieden. Es war gerade 30 Jahre alt, als Siemens es kaufte. Kurz darauf wurde er geadelt. Da hatte Werner von Siemens die 70 schon ein Stück hinter sich. Zuletzt war er etwas geheimrätlich, schreibt der mächtige Bankier Fürstenberg, der die AEG und nicht Siemens finanzierte. Werner von Siemens, 1816 bis 1892, Erfinder, Entwickler, Industriegründer. Sein Name gilt immer noch. Aber von ihm selbst weiß man nicht mehr viel. Sein Grab in Stahnsdorf ist auch fast ein Schloss. In seinem Schloss in Biesdorf hatte der Industriekapitän, der Wert darauf legte, ein Erfinder und fast ein Wissenschaftler zu sein, und der ein beachtlicher Politiker war, weiten Blick übers Land, vom Turm, von dem die ersten Sendungen drahtloser Telegraphie kamen, konnte er rund um sich sehen und versuchen, mit sich klar zu kommen. Er ist nicht ganz mit sich klar gekommen. Seinem einstmals viel gelesenen Erinnerungsbuch, der Erfolgsgeschichte seines Lebens, liest man es an. Am Rande des Grabes hat der Mann mit dem tolligen Haare, „Krauskopf“, verdächtigerweise noch das Bedürfnis, sich der Heldentaten seiner Jugend in Lenthe bei Hannover zu rühmen. In Lübeck ist er zur Schule gegangen, in dieselbe Anstalt, an der auch Thomas Mann gescheitert ist. Ich war auch da und habe das Katharineum in Lübeck auch nicht vergessen. „Der Unterricht in der Mathematik war sehr mangelhaft und befriedigte mich nicht. Im Studium der alten Sprachen konnte ich (auch) keine Befriedigung finden, ich entschloss mich zum Baufach. Mein Vater sagte aber: So wie es jetzt in Deutschland ist, kann es nicht bleiben. Der einzige feste Punkt ist die preußische Armee, in solchen Zeiten ist es besser, Hammer zu sein als Amboss“, also wanderte er nach Berlin, wohnte in einer Knopfmacherherberge und wurde Offizier, bei der Artillerie. Bei der Luftfeuerwerkerei fing er an, der Siemens zu werden, der am Ende seines Lebens Schlösser hatte.

Das Schloss in Biesdorf hat heute ein Stockwerk weniger als damals. Die Nazis haben’s angezündet, sagt der freundliche Mann, der sich als technischer Leiter vorstellt. Er rühmt die Tanztees, die in der Galerie donnerstags stattfinden, von 14 bis 17 Uhr; dort hinten sitzen immer zwei ehemalige Chefärzte mit ihren Frauen; Unkostenbeitrag sechs Mark. „Tausendfünfhundert Baumsorten“ wachsen im Park, aber an sich keine Birken; die Birken dort hinten am Eiskeller, die haben die Russen gepflanzt; für Russen ist ein Friedhof ohne Birken kein Friedhof; die Kuhlen, die man noch sieht, wenn man’s weiß: Das waren die Gräber für Männer aus dem Ural und aus Usbekistan und was weiß ich woher, die hier 1945 ihr Leben ließen, jetzt ruhen sie in Treptow. Das liegt dort hinten, wo die gelbe U5 hochbahnig entlang zieht vor dem schwarzen Gehölz, nur noch ein Stückchen weiter.
Langsam verfällt das Schloss. Drinnen ist volkstümliches Leben, heute Abend liest Peter Ensikat über die DDR, die es vielleicht gar nicht gegeben hat. Über die B1 kommt man kaum hinüber, so dicht ist der Verkehr; auf der anderen Seite ein endloser Stau, fast bis zur Frankfurter Allee. Berlin begibt sich dahin, wo es Feierabend hat.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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