Punkt, Punkt, Punkt

Das Thema der Stadt ist die Geschichte. Mit diesem Satz bin ich an diesem regnerischen Sonnabend aufgewacht. Eigentlich wollte ich ausschlafen. Nun muss ich los. Am Westkreuz kreuzt die Stadtbahn die Ringbahn und läuft von da durch die Innenstadt, bis sie sie am Ostkreuz wieder trifft. Die Stadtbahn ist über zwölf Kilometer lang, fast acht Kilometer gemauerte Viaduktbögen, fast zwei Kilometer Brücken und Eisenviadukte, ein Hauptbauwerk Berlins, typischer für die Stadt als der Kudamm, über hundert Jahre alt, erneuert, restauriert, wieder gut in Takt; gerade jetzt eine Stadtattraktion ersten Ranges: ein Querschnitt durch Berlins Mitte.
Hinter dem Bahnhof Zoo, wo sich rechts und links die Hauptstädtischkeiten auf- und ausstellen, kommt der Obdachlose, der die „Motz“ verkauft; „Gottes Segen“ wünscht mir der freundliche Mann, der den Geruch der großstädtischen Armut verbreitet, während draußen das Herrschafts-Berlin vorüberzieht.

Vom Hackeschen Markt an gehe ich über die Straße, die nach dem Stadtbahn-Erbauer, nach Ernst Dircksen heißt, bis zur Rosa-Luxemburg-Straße. Es ist unterdessen neun Uhr. Die Gegend ist nicht sehr belebt. Das „Tati“ am Rosa-Luxemburg-Platz ist noch zu; ich muss das Frühstück aufschieben.
Wenn er etwa aus Wannsee gekommen wäre, hätte er genau den Weg nehmen können, den ich jetzt gekommen bin. Ich bilde mir ein: Richard Ermisch muss in Wannsee, jedenfalls in Zehlendorf, irgendwo draußen, in einer bescheidenen Villa gewohnt haben. Richard Ermisch war ein fruchtbarer Architekt. Im vorigen Kapitel habe ich seine zackigen expressionistischen Bauten an der Zeppelinstraße beschrieben. Da war er ein Mann der 20-er Jahre, ein Baumeister der Republik. Er passte sich an. Die Liste seiner Bauten und die Kunst des sozialen Überstehens, in der er ebenfalls Meister gewesen zu sein scheint, ist eindrucksvoll. 1933 entließen die Nazis den großen Organisator des republikanischen Wohnungsbaus, Martin Wagner. Er fand eine Professur in USA und hatte später keinen Anlass in die BRD oder die DDR, in sein altes Berlin, das das alte eben nicht mehr war, zurückzukehren. Es rief ihn auch niemand. Richard Ermisch war in guten Tagen ein Partner von ihm gewesen. Das vergaß er nach 1933.

Der Nachfolger Wagners als Stadtbaurat war ein Nazi. Er hieß Kühn. „Wir gehen vorwärts! Wir warten nicht auf gesetzgeberische Maßnahmen!“ sagte er im Februar 1938 auf einer Rathausbesprechung, bei der die „Spezialsanierung“ des Bülowplatzes beschlossen wurde.
So hieß dieser berühmt-berüchtigte Platz inmitten des Scheunenviertels, der heute – nachdem es von diesem Viertel nur noch die ungenaue Erinnerung gibt – nach Rosa Luxemburg heißt.
1902 hatte der Staat hier zum ersten Mal saniert und die Bewohner vertrieben; 1913 bis 1915, während des Weltkrieges, entstand durch ideal-sozialistische Initiative die Volksbühne, das eindrucksvolle, überlebende Gebäude von Oskar Kaufmann; 1927 baute Pölzig an der Ecke Hirtenstraße seine gerundeten Wohnhäuser und das schnell berühmte Babylon, ein Kino. Ein Kino, ein Theater für das Volk, aber vor allem kam Schicki-Micki.
Am Ende der 20er Jahre wohnten in der Gegend um die Volksbühne viele arme Juden aus Osteuropa, Flüchtlinge, Menschen, die einen Platz suchten, an dem man ihnen nicht an den Kragen wollte.
Hinten lag das Liebknecht-Haus, Hauptquartier der KPD seit 1926, politische Aufmärsche, Demonstrationen, zwei gehasste Polizeioffiziere wurden umgebracht; da sehen wir den jungen Mielke um die Ecke huschen, der später eine so tiefe Furche in unsere Stadt gezogen hat. Hierher wollte Hitler eine Märtyer-Gedenkstätte für Horst Wessel, davor „kleine Wachthäuschen, die dem Gedanken dienen, dass die heranwachsende Jugend Ehrenwache schieben und Verantwortung fühlen lernt“. Dazu passten die Juden nicht. „In der Nähe der Horst-Wessel-Ehrung können wir keinen jüdischen Wohnblock dulden.“ Nun bringen wir, rief der Wagner-Nachfoger, „die Herren und Damen nicht-arischen Geschlechts mit einer gewissen Wupptizität hinaus“, Entmietung von zweihundertfünfzehn Mietparteien zwischen Linien-, Tor-, Zola- und Weydingerstraße: ein „Ghetto“, sagte der Magistratsrat, schnell handeln und „um Gottes willen nicht irgendeine Aufklärung über das, was sich dort ereignet. Der Führer hatte einige Änderungsvorschläge.

Dann stieg die Aktion. Abriss und Neubau. Richard Ermisch, der Architekt, der alle Zeiten überstand, führte aus.
Das sind nun die Häuser, die in drei gestaffelten Reihen hinter der Volksbühne zwischen Tor- und Linienstraße stehen, eine Grünfläche dazwischen, eine Art Hofgarten. Von dem fünfstöckigen Block zur Torstraße – damals hieß sie Lothringer – blättert der Putz aber, ehemals vielleicht gelblich, jetzt von schwarzem Grau; der untere Fassadenteil ist dicht besprayt, die Läden machen einen geschlossenen Eindruck.
Ich biege in die Weydingerstraße ein, die mit der Linienstraße dort eine Art Platz bildet, ein ruhiges Straßenende, das den Durchgangsverkehr verbietet. Ich stehe unter den Arkaden vor der Integrations-Kita Nestwärme, schütze mich vor dem Regen, während ich mir Ermischs Sanierungsbauten von 1934 betrachte. Sie sehen jetzt schwarz und dunkel aus. aber die Straße macht auch an dem Regentag eher einen hellen Eindruck. Man müsste dem Ermisch als Architekten vielleicht Gerechtigkeit widerfahren lassen, die Bauten fügen sich mit der Volksbühne zu einem ruhigen Ensemble; die Häuser wirken vielleicht ein bisschen angetreten und ausgerichtet; aber die städtische Atmosphäre, die sie erzeugen, ist nicht unangenehm.
Wenn man nicht wüsste, welche Tage hier begraben liegen, wenn man überhaupt eine Eindeutigkeit in die Stadtgeschichte bringen könnte, wäre das – mitten in der Stadt – ein schöner Ort. Ich glaube „schön“ könnte das richtige Adjektiv sein. Ich kann mir Kategorien vorstellen, nach denen diese Gegend hier, jetzt, an einem in den Mittag übergehenden Sonnabend am Ende des Jahrhunderts „schön“ ist. Die Geschichte ist das, was fort ist.
„Wehrt euch!“, ist angesprayt. „Organisiert euch gegen…!“ Punkt. Punkt. Punkt. Wir können uns unseren Feind aussuchen.
Jetzt ist das „Tati“ auf. Die Sonnabend-Paare treffen ein, die die freundliche Nacht eintauschen gegen einen ruhigen Tag. Im Regen wird das Wiesengrün vor der Volksbühne immer grüner, die Bäume schütteln sich, das laufende Rad kommt nicht weiter, die Tauben halten sich am liebsten am Rand von Wiese und Pflaster auf, fliegen eine Runde und setzen sich wieder, wo sie herkamen, Allmählich stellt sich sogar schon Zugehörigkeitsgefühl ein.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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