Licht- und Schattenspiele

Heute fuhr ich halbwegs um Berlin herum, mit der S4 von Halensee, wo ich wohne, nach Pankow. Am Treptower Park steigen mit ihren überpackten Fahrrädern fünf Männer ein; Penner; sie strömen den typischen süßlichen Geruch aus, aus Schweiß und Bier, der in manchen S-Bahnwagen hängt wie die Aura um die Heiligen.
„Bald sinn wir raus aus die Stadt!“ Sie freuen sich, dass sie weg gehn; ich freue mich, dass ich bleibe. Am Bahnhof Pankow verabschiede ich mich von den reisenden Pennern, die rechts nach Bernau fahren, während ich links herum in die Florastraße einbiege. Ganz unerwartet treffe ich da eine Studentin, ehemalige, längst tief im Berufsleben, charmante Frau, aber unzufrieden. Das Studium hatte Hoffnungen erweckt, die das Leben nicht hielt. Wir sagen den Studenten überhaupt nicht die Wahrheit. Wir führen sie im Dienste unseres Dienstherren in die Irre, die Wahrheit sollen sie erst kennenlernen, wenn es zu spät ist. Ich mache mir Vorwürfe. Das Leben, das uns allen erst die Illusionen und schließlich die Hoffnungen raubt, ist ja nichts Abstraktes. Sondern Arrangement, dem man auch die Namen von Menschen geben könnte. Lieber nicht!

Ich gehe schnell die Florastraße entlang, die mit ihrer überraschenden Geschlossenheit fast tröstlich auf mich wirkt. Die sanfte Biegung, die sie gegenüber der Dusekestraße beschreibt, die – selbst im Bogen – in sie einmündet, hat etwas Beruhigendes, Gefestigtes. Das ist doch ein albernes Gefühl, denke ich, in die Florapromenade einbiegend, diese Straße mächtiger Stadtbürgerlichkeit, berlin-zeittypisch in Verfall und Erneuerung. Dass die DDR ein so starkes Selbstbewusstsein hatte, muss man vielleicht sogar bewundern, schon um der Souveränität willen, mit der sie übersah, dass die Balkone abfielen.
Gegenüber dem Panke-Museum denke ich das, wo eine Institution domiziliert, die offenbar historisches Interesse hat und sich deshalb mit gotischen Buchstaben schreibt, als sei die echte Vergangenheit das Mittelalter. Wenn Zeiten uns noch angehen, ist es schwer, harmlose Museen um sie herumzuordnen und sie unter „Geschichte“ abzulegen. Die Geschichte scheint uns meist länger, als sie ist. Die Geschichte ist kurz.

Arthur Miller lebt noch, ist jünger als meine Mutter, ein Held meiner verschwiegenen Wünsche: Intellektueller, Schriftsteller, mindestens ein Theaterstück, in dem die Epoche sich wiedererkannte. Und außerdem hat er Marilyn gekriegt, mit Marilyn Monroe, die den Präsidenten umarmte, legal im Bett gelegen, so dass es ein mythischer Ort geworden ist. Bestimmt! Warum kommt Arthur Miller jetzt in die Florastraße nach Pankow? Besser noch in die Lychener Straße nach Prenzlauer Berg, wohin ich nachher noch gehe.
Ziemlich am Anfang von Millers Geschichts-Lehrbuch „Zeitkurven“ steht die rührende Geschichte seines Vaters. Mit einem Schild um den Hals schickte man den 6-Jährigen in Polen los, alleine, nach Amerika, seine Eltern zu finden, die nicht mal Zeit hatten, ihn vom Schiff abzuholen. Dann machte er als Konfektionär so viel Geld, dass der Krimper Bill Fox, fast ein Freund, 1915 von ihm 50.000 Dollar leihen wollte, um einen Wahnsinnsplan zu verwirklichen: Filmstudios in Hollywood. Miller gab sie ihm nicht. Der Plan war zu abenteuerlich.

So lange, so kurz ist also die Geschichte der Filme und der Kinos. Drüben in der Breiten Straße, im halb abgerissenen Tivoli, „Felsenschlößchen“ damals, haben die Brüder Skladanowski die ersten Filme gezeigt. Das ist der Geburtsort des Films. Am Tag, an dem ich diesen Text schreibe, macht am halbfertigen Potsdamer Platz das größte Kino Deutschlands auf, das sich nun gar nicht mehr Kino nennt. CinemaxX, mit großem X am Ende, 19 Säle, der größte für 600 Zuschauer, die Leinwand 10 mal 22; 199 Abspielräume hat die Firma, der deutsche Branchenführer, die Ufa, sogar 421. 148 kleinere Kinosäle haben aber auch zugemacht in den letzten sechs Monaten.
Auch die Fortuna-Lichtspiele, das ehemalige „Flora“, in der Florastraße, dessentwegen ich heute hier entlang gehe, ist weg; eine Baustelle, Kino seit 1910. Da hatte sich Fox also noch nicht aufgemacht nach Hollywood. Auch der Polier weiß nicht, was es werden wird, Kino ist es schon lange nicht mehr. Wenig mehr als 100 Plätze, aber an der Wand eine erhöhte Loge mit zwölf Sitzen: das war was, dort mit seiner Liebsten, den Arm um sie gelegt, am Abend bevor es hinausging, August 1914 gegen den Erzfeind. Lieb Vaterland, magst ruhig sein.
Noch näher, empfinde ich, rückt die Geschichte des Mythos an uns heran in der Stargarder Straße. S-Bahn Wollankstraße zur Bornholmer-, zur Schönhauser keine halbe Stunde: tiefes Prenzlauer Berg; die Stargarder an der Gethsemane-Kirche vorbei, über die Pappelallee, hinten – hier empfindet man: unten – der Fernseh-Turm, bis zur Lychener. An der einen Ecke Berliner Bürgerstuben, deutsche Küche, Pool Billard, an der anderen das Noxz. Wenn man es weiß, kann man noch erkennen, dass das mal ein Kino war. Mit dem deutlichsten Kinonamen, den man sich vorstellen konnte: Kinematographen-Theater. Seit 1909. Auf den äußersten Sitzen links vorne nur „bedingt gute“ Sicht.

Großer Buffetbereich. Bier und Illusionen. Ein Ladenkino. Mehr als zwanzig davon gab es in Prenzlauer Berg.
Was für Filme sahen da die Leute, die in den Häusern wohnten, von denen die meisten noch da sind?
Meine Großeltern hätten darunter sein können. Asta Nielsen in „Der fremde Vogel“, „Das Totenhaus“. Henny Porten in „Maskierte Liebe“ oder „Adressatin verstorben“. Die Schlüsseljahre des Kinos waren das, sagt der Freund meiner Tochter, niemand weiß besser über Kinos Bescheid als er.
Je näher es auf 1914, auf den Weltkrieg ging, umso häufiger ritt auch Friedrich der Große siegreich über die deutschen Leinwände. Nichts – wie gesagt – von Hollywood. Diese größte Kunstproduktionsstätte der Welt und aller Zeiten, diesen mythischen Ort, der einen so großen Teil unserer Seelen verwaltet (ob wir es wahrnehmen oder nicht), den gab es noch nicht. Die Filme kamen aus kleinen Studios in Berlin-Mitte. Oskar Messler hieß einer der Produktionspioniere, jetzt ist der Name nichts gegen Fox und Mayer. Als Arthur Miller Marilyn Monroe, den Fox-Star Nr. 1, in den Fox-Studios abholte, war das Büro des Direktors so groß wie ein Tennisplatz. Der Olymp. Das war der Olymp. Die Götter wohnten dort. Henny Porten dagegen kehrte zu uns zurück. In Ratzeburg bei Lübeck war sie mit einem Augenarzt verheiratet. Ich habe sie am See entlanggehen sehen. Als sie 1960 in Berlin starb, war sie erst siebzig. Damals war ich Referendar beim Oberverwaltungsgericht. Die Geschichte ist kurz. Die Mythen sind groß. Die Träume sind süß…

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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2 Kommentare

  1. Nein, ich kannte nur das Prenzlauer-Berg-Museum und das auch Weißensee. Die sind ja nun alle zusammengelegt, wie auch in Mitte und damit leider ihrer lokalen Besonderheiten beraubt.

    Ich habe aber Klaus Deinen Tipp geschrieben!

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