Unter Adlers Fittichen

Wer auf dem Platanen gesäumten Mittelstreifen des Haselhorster Damms auf einer der dunkel-roten Bänke sitzt, sich die Fassaden betrachtet, östlich und westlich, der muss auch noch aufstehen und vom Burscheider Weg, östlich und westlich, ein Stück durch die zu den Häuserzeilen parallel laufenden grünen Hofstraßen nordwärts gehen, ehe er vielleicht, hinter der Weihnachtskirche, am Wasser des Alten Berlin-Spandauer Schifffahrtskanals ein paar Augenblicke sitzen und sich fragen kann: Wo bin ich hier? Wer hier, in der Reichsforschungssiedlung, wohnt, weiß das natürlich. Wirklich? Kein Ort im Lande der Menschen – den Tieren geht es da ganz anders – ist alleine durch Gegenwart zu bestimmen.

Ich bin mit der U7 gekommen. Ein Intellektueller, oder jedenfalls einer, der so aussah, hielt mir die Frankfurter Rundschau vor die Nase, dass ich „na! na!“ murmeln musste. Manche schliefen, Bierdosen knackten auf, die ausgetrunkenen werden in harten Händen zusammengedrückt; die Schuhe sind weißgestäubt vom Baustellenstaub. Wer Arbeit hat, ist von der Arbeit, wer nicht, von der Arbeitslosigkeit erschöpft. Viele lesen aber auch Bücher. Die U-Bahn fördert das Medium Buch, ich denke so vor mich hin: TV werden sie ja nicht einbauen; aber vielleicht demnächst kostenlos eine Tageszeitung austeilen, in anderen Metropolen gibt es das schon; die kostenlose U-Bahn-Zeitung ist für das Verkehrsunternehmen fast schon eine Frage der Wirtschaftlichkeit … Wirtschaftlichkeit – das Wort holt mich zurück. Der Verursacher der „Reichsforschungssiedlung“ war die „Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen“; ein Verein. Reichstag und Reichsregierung stellten ihm zehn Millionen Mark zur Verfügung. Er hat sie nicht aufgebraucht. Die Zeiten waren schneller. Wo das Geld geblieben ist, war nicht in Erfahrung zu bringen.

Die Gartenfelder Straße ist zugleich der Marktplatz. Es ist Feierabend; viele Männer haben kurze Hosen und schlappige Schuhe an, T-Shirts darüber. Es wird schon Bier getrunken.
Ich bin beim „Haselhorster Landbrot“ vorüber; gleich hinter der Daumstraße wende ich mich nach links. Ich gehe die Hofstraße hinauf und die nächste hinunter, betrachte die Vorder- und die Rückfronten der zur Gartenfelder Straße rechtwinklig stehenden Hauszeilen. Ordentliche Häuser, viel Grün, die GeWoBAG will Wohnungen als Eigentum verkaufen.
Den Anfang einer Siedlung kann man an verschiedenen Stellen annehmen. Die „Reichsforschungssiedlung“ liegt nördlich der Gartenfelder Straße, reicht nach Westen über den Haselhorster Damm hinaus bis zur Riensbergstraße, nach Norden bis zur Lünette, die ihren schönen Namen noch von der Festung Spandau hat.
Dort vor dem belebten Kinderspielplatz gibt es ein Zeichen, einen bronzenen Adler mit kleinen Adlerchen. Es ist wohl die Frau vom Reichsadler; der Reichsadler hängt mit ausgebreiteten Flügeln an den Stirnseiten öffentlicher Gebäude (oder bildet – wie dieser einst Denkmäler nationaler Erhebung); aber weil dieser Adler zwischen Lünette und Lüdenscheider Straße – er ist genauso alt wie ich – die Flügel breitet über die Adlerkinder, nehme ich ihn als Signet jener Reichsforschunsggesellschaft, die brauchbare Wohnungen liefern wollte (und die es bereits nicht mehr gab, als der Adler sich hier niederließ: 1935).

Wie kann man am besten Mietwohnungen bauen, die gut sind und wenig Geld kosten? Das herauszufinden, war das Ziel dieses demokratischen Vereins, in dem sich Spitzenleute der Branche versammelten. Sie sind vergessen. Marie Elisabeth Lüders, der Frauenrechtlerin, Reichstags-, Bundestagsmitglied, ist noch ein kleines Nachleben auf einer Briefmarke gestattet. Aber wer kennt Martin Wagner, den SPD-Baustadtrat von Berlin, vielleicht den wirksamsten Wohnungsbauer, den die Stadt je hatte?
Die Nazis vertrieben ihn; in der Nachkriegszeit konnte man ihn in Deutschland auch nicht gebrauchen; Professor in Harvard. Bartning, Schumacher, May. Wenn man das Tuch des Vergessens, das die Geschichte über sie ausgebreitet hat, an dieser Stelle ein bisschen auflüftete, dann … ja, was dann? Es ist gar nichts Besonderes, dass die Bilder an Eindeutigkeit verlieren, je genauer man sie ansieht.
Ein genauer Blick bringt zum Beispiel einen Satz vor Augen wie diesen: „Die Entlüftung von Bädern und Klosetts nach Luftschächten wird nicht als befriedigend bezeichnet, da die moderne Hygiene neben einwandfreier Belüftung auch günstige Belichtung solcher Nebenräume fordert.“ Das ist der 10. von elf gewissen Sätzen über Mietwohnungen. Damit fing am 24. Januar 1929, vier Uhr nachmittags, das Preisgericht an, das jene Reichsforschungsgesellschaft berufen hatte, um einen „Reichs-Wettbewerb“ zu entscheiden. Dieser Wettbewerb sollte Bauvorschläge für das Gebiet hervorbringen, in dem ich jetzt auf einer Bank sitze, um – wie ich anfangs dachte – die Ergebnisse zu betrachten. Den Wettbewerb gewann der berühmteste der Teilnehmer: Walter Gropius, nach dem dort, wo die U7 am anderen Ende hält, die Gropiusstadt heißt.
Heute dürfte man nicht sagen: Der Plan von Gropius war der Entwurf zu einem großen, strengen Lager. Als ich Jagusch, dem Fotografen, in diesem Zusammenhang den Namen eines berühmten Lagers sagte, sagte er: „Diesen Namen wirst du aber in diesem Zusammenhang nicht gebrauchen!“ Damit hatte er mehr als Recht. Aber was die „Moderne“ hervorbrachte – und steht Walter Gropius nicht für die architektonische Moderne? – das weckt eben manchmal doch das Bedürfnis nach Postmoderne.

Ich wende mich vom Haselhorster Damm nach Osten, wie gesagt: den Burscheider Weg entlang, verweile noch ein Weilchen vor den Häuserzeilen, die in Süd-Nord-Richtung die westöstliche Verkehrsstraße um grüne Höfe erweitern, als ob wir in England wären, wo man solche Anlagen manchmal „gardens“ nennt. Die „Heimag“, jene Wohnungsbaugesellschaft, die die Reichsforschungsgesellschaft als Bauherrin gewonnen hatte und die dann in der GeWoBAG aufgegangen ist, wollte jedenfalls nicht nach dem Plan von Gropius bauen. Westlich vom Haselhorster Damm ließ sie ihre eigenen Baubüros bauen, mit dem Architekten Fred Forbat und östlich bauten die im Berliner Wohnungsbau hochberühmten Architekten Mebes und Emmerich. Wirklich Top-Leute. Mebes war im Preisgericht jenes Wettbewerbs gewesen. Dass ein Wettbewerb damit zu Ende geht, dass nicht ein Wettbewerbsteilnehmer, sondern ein Wettbewerbspreisrichter baut … na ja, das kommt vor, im Baugeschäft gibt es viele Regeln, damit sie gebrochen werden.
Dann kamen die Nazis. Mebes und Emmerich machten noch ein bisschen weiter. Mebes wurde aus der Akademie der Künste rausgeschmisssen. Die Liste der Rausgeschmissenen ist eine Ehrenliste. Unter den Rausschmeißern sind aber auch Spitzenleute. Die Reichsforschungsgesellschaft erzählt verschiedene Geschichten. Heute werden sie kaum noch vollständig erzählt. Die Häuser stehen so da. Für die Mieter ist wichtig, ob sie ordentlich in Ordnung gehalten werden und ob der Mietpreis stimmt. Geschichte ist nicht wichtig für sie. Wir haben alle mit unserer eigenen Geschichte zu tun.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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