Thematische Erhöhung

Zur Altstadt von Spandau, von der durch die Autostraße Am Juliusturm noch das Kolkviertel separiert ist, kommt man von ziemlich tief unten, wenn man mit der U-Bahn kommt. Auf den Sitz mir gegenüber ist angesprayt: „Die Welt“. Das kommt mir tiefsinnig vor. Aber vielleicht ist nur Springers „Welt“ gemeint, in der der feinohrige Rüdiger Karutz gestern schrieb: Walter Momper will werden, was er war. Die U-Bahnlinie Rudow – Rathaus Spandau ist vielleicht die westberlinischste Verbindungslinienvon ganz Berlin. Die grünlich leuchtenden Leuchten, die hier im Bahnhof Altstadt über die Rolltreppen herabhängen, wirken wie Zitate aus Goldschnittbüchern. Gegenüber der Breiten Straße führen ein paar Stufen zu dem Platz, der die Marienkirche mit einem Kindergarten verbindet. Da ist man sofort ganz woanders. Aber wo?
Die Kirche gehört dem Bund. Weil sie dem Militärfiskus gehört hat. Einst katholische Garnisonskirche. Wenn Gott zu den Soldaten kommt, ist er ein Staatsangestellter. Er dürfte also etwa – ist das so? – kein Kopftuch tragen.
„Schönes Wetter heute“, sagt der eine Alte, „Woll’n wir’s hoffen“, der andere, am Geländer zur Havel, wo sie’s nicht mehr weit hat zur Spree. Sie sehen den Reparaturarbeiten auf dem Wasser zu. Eins der arbeitenden Schiffe heißt Thüringen, nach dem Land, in dem ich geboren bin, das andere Hamburg, nach der Stadt, in der ich meine beiden ersten Semester studiert habe. Ach Gott, wie lange…

Der Eingang zum Wröhmännerpark ist stimmungsvoll. Die Balkone vom Möllentordamm blicken herunter auf das Wasser wie in Venedig … ach was, die Gegend hat nichts von Venedig, eher etwas von Bad Pyrmont. Die weißlackierten Bänke, die mit dem Rücken zu den Zierheckchen vor dem rotkiesigen Weg einander gegenüber aufgestellt sind, wirken als erwarteten sie das Kurkonzert; weiter hinten sogar breite weiß-hölzerne Liegestühle.
Der nackten Diana vorne im Beetchen fließt das bronzene Grün über das Gesicht. Die Göttin der Jagd. Sie hat – bevor sie nun hier im Park der germanischen Schiedsmänner (denn so was waren die Wröhmänner) sich von der Jagd erholt – auch schon in der Schorfheide gejagt: in Hermann Görings Landsitz „Karinhall“; davon sind nur noch Steine übrig, und den dicken Reichsjägermeister kann sich niemand mehr vorstellen, wie er vielleicht da stand und sich an dem Bronzebild der nackten Jungfrau ergötzte: Was heißt da Göttin, Frau ist Frau.
Von hier sind es nur ein paar Minuten über die Neuendorfer, die Schönwalder Straße aufwärts, bis sie mit der Feldstraße ein lang gezogenes spitzes Stadtdreieck, also unter Buchen, Linden, Ulmen einen Platz, fast auch: einen Park bildet, der – das empfinde ich als ironisch – nach Bismarck heißt.

Die Sonne kommt hervor, ich sitze ein Weilchen auf einer der ungestrichenen Bänke am oberen Platzende vor dem Omonia-Treff, einem griechischen Restaurant. Ein paar Lindenblüten trudeln ab in hängender Rispe am bleich-grünen Tragblatt. Es geht mir nicht sehr gut. Ich denke: Wer weiß … wer weiß … ? Solche sonnigen Minuten, die ich in handyloser Unerreichbarkeit verlebe, muss ich als kostbar registrieren, dick auf der Haben-Seite. Die Ehrgeize der Jugend haben sich ganz andere Momente vorgestellt als Augenblicke des Glücks.
Wo bin ich also hier? In Spandau, gut, das ist Geographie; im Sachsenwald, wo Bismarck ruht seit 100 Jahren, nee, damit hat die Gegend hier nichts zu tun; wenn der Platz nach Goethe hieße, hätte er auch mit Weimar nichts zu tun.
Mitten im Großstadtverkehr eine ruhige Gegend, man hört natürlich die Autos rechts und links und unten und oben, aber sie gehen einen augenblicklich nichts an, sind geparkt in Unerheblichkeit.
Kaum 200 Meter die Müllerstraße, die nach einem Maurermeister heißt, nach Nordosten: der nächste Park. Ich überquere ihn mittig, er reicht von der Neuendorfer Straße fast bis zum Lutherplatz, heißt nach einem Oberbürgermeister, Koeltze, und war früher ein Friedhof.
Wo sind die Toten geblieben? Das wäre doch schön, sie unter den Füßen ruhen zu wissen, wir stehen auf den Toten wie auf den Schultern von Riesen.

Eine schöne Anlage, gelungen, bravo den Stadtgärtnern; ihre Wege sind schöner als ihre Wörter (unten auf der Erklärungstafel an der Neuendorfer: „Eingebunden in ein weitläufiges, erlebnisreiches Wegesystem dienen mehrere Sitzplätze dem erholsamen Verweilen und finden in einem gestalteten Pavillon ihre thematische Erhöhung“); der Toten gedenkend, um deren Individualität ich mich nicht mehr kümmern brauche, das Wegesystem erlebend, denke ich – nun schon in der Jagowstraße – an meinen eigenen Tod, ob ich ruhen werde an der Küste eines Meeres in dem Sand oder vielleicht in unter solchem, von erlebnisreichen Wegen durchzogenen Rasen: eine Sentimentalität, wie von Tangos, sagen wir: Adios Nonino…
Falsch! Ganz falsch! Hierher gehört nichts Argentinisches. Die Gegend ist türkisch. Viele Türken leben schon ein ganzes erwachsenes Leben hier; 18.000 Türken in Spandau, legal, sagt der Café-Wirt, das Adverb beziehungsreich betonend. Die Geschichte, die im Jagow-/Lynar-Viertel unter dem Pflaster und hinter den Fassaden liegt, ist eine SPD/KPD-Geschichte; hier wurde noch links gewählt, als in bürgerlichen Quartieren längst die Nazis siegten.
In Nummer 16a der Jagowstraße hat unser Freund H.-G. Lorenz seine Rechtsanwalts-Praxis. Das Büro ist sehenswert. So könnte es auch in Istanbul aussehen. In den schwachen Stunden des Abgeordnetenhauses zeichnet der Abgeordnete Lorenz Schrift- und Zeichenmuster der arabischen Welt.
Hier zieren sie Decken und Wände. Atatürk im Bilde, daneben: „Allah ist mächtig“ in kufischer Schrift. Nur mal eins, bei dieser Gelegenheit! Wenn dieser sozialdemokratische Abgeordnete im Parlament aufsteht und sagt: Kreuzberg (könnte auch sagen: Spandau) darf nicht Klein-Istanbul werden, dann sagt er es ganz anders als es aus dem Munde des Generals klänge, der zur Zeit Berlins Innensenator ist, oder aus dem Munde von Gerd Schröders Schatten-Innenminister Schily, der – Stammheim hin, Stammheim her – doch eher zur Toskana-Fraktion rechnet.

Das möchte ich erleben, dass aus einem volkstümlichen Büro inmitten der Probleme der Minister käme, der so demokratisch wie wirksam mit ihnen umginge. Humanität ohne Sentimentalität, denke ich, auf einer der hellbraunen Bänke sitzend im Windschatten der Strebepfeiler der romanisch-gotischen Lutherkirche, hinter einem kleinen Spielplatz, den die Kleinen aber vernachlässigen, die mal türkisch, mal deutsch und sogar einmal englisch goal rufend mit einer leeren Bierdose Fußball spielen.
Diese Kirche auf dem vielstraßigen Platz steht in den Büchern: „Berliner Charta der Kirchenbauten“, „Wolfenbüttler Erklärung“: Resolutionen der Kirchenbau-Dezernenten, wie man die zu groß gewordenen Gotteshäuser als Menschenhäuser nutzen soll. Die Lutherkirche zum Beispiel umschließt heute auch neun Sozialwohnungen.
Ich gehe die Lynarstraße bis zur Schönwalder, an der Ecke war ein Schläger- und Folterlokal der SA, und auf der anderen Seite abwärts bis zur Neuendorfer. Wo der Parkplatz ist, gegenüber dem ummauerten Krankenhaus, Krankenpark, war ein jüdischer Friedhof, las ich.
Wo sind die Toten? Schließlich ist alles fort. Ein endgültiges Parken ist uns ncht beschieden hier unter dem wächsernen Mond. Da hilft keine Erhöhung, das Endthema ist Schweigen.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

print

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*