Seelengebinde

Der Antifaschismus der Gedenktafeln, der Staats- und Bürokratieantifaschismus ist nun out. Der Staatsapparat nimmt uns das Erinnern nicht mehr ab. Das Volk vergisst vor sich hin. Jetzt zählen beinah nur noch die privaten Anknüpfungen für das Erinnern. In einem antifaschistischen Verein bin ich dafür kritisiert worden, dass ich einen Satz über Werner Seelenbinders Zunamen geschrieben habe: „Seelenbinder“ ist ein so schönes Wort, einer der die Seelen bindet, die Gefühle fesselt. Ganz wahr ist es freilich nicht: wirklich gefesselt bin ich von dem Olympiaringer Werner Seelenbinder nicht. Von keinem Ringer. Außer von Garp. Ein kleiner muskulöser Mann, einer von denen, für die das Ringen als Sportdisziplin eigentlich erfunden worden ist; damit sie auch eine Bewährungschance haben, die sich für die Großen und Schönen so selbstverständlich anbieten.
Arbeiter und Ringer. Seelenbinder als sozialer Prototyp … nein, nein: so drücke ich mich nicht aus, soziale Einteilungen interessieren mich nicht, aber das soziale Klima, die Bewusstseinslagen der Stadt, ihre Kulturen. Deshalb spaziere ich heute von Seelenbinder zu Seelenbinder, prüfe Seelenbinder-Stätten darauf, was sie Seelenbinderisches, Seelenbindendes haben. Ich komme von Kreuzberg, ohne die Grenze noch genau zu registrieren, die früher mauerbesetzte, nach Treptow-Köpenick.

Es ist ein literaturberühmter Weg, kommt bei Fontane vor, in „Jenny Treibel“, worin aber nichts Seelenbinderisches vorkommt. Werner Seelenbinder war ein Arbeiter, Transportarbeiter bei AEG Treptow, hier hinten in der Hoffmannstraße; solche Leute kennt Fontane nicht, das Berlin Fontanes ist das Berlin der feudalen Vergangenheit und der Industrieherren: die soziale Schicht steht im Vordergrund, in der die shares gehalten werden, nicht die, aus der die Arbeitslosen kommen. Da haben wir Seelenbinder zu suchen. Aber ich finde ihn nicht. Die AEG-Nachfolgerin, VEB Elektro-Apparate-Werk, hatte sogar ein „Traditionskabinett“, in der Hoffmannstraße, auf der Spreeseite. Hier hat nun die Allianz die Stadt ins Postmodeme erneuert, zwischendrin sogar mit Fassadenzitaten der Moderne. Gegenüber verfallen die sozialen Einrichtungen, ziehen aus, ändern die Telefonnummern. Eine zeittypische Straße. Berlin ändert sein Gesicht, Schönheitsoperation, lifting, eine Diva mit Erfahrung. Frisch ist ihr Gesicht natürlich nicht mehr, die Falten sind drin, können ein bisschen kosmetisiert werden. Die Gedenktafel für Seelenbinder ist weg. Oder irgendwo auf dem Hof, wo ich sie nicht finde. Sie hat hier nichts mehr zu suchen (und gesucht hat sie auch in DDR-Zeiten hier wenig: da haben sie ja alles schon gewusst, auf die Leute kam es diesen kanonischen Parteitafeln gar nicht an). Die Industriekultur ist weg, die solche Arbeiter brauchte. Statt AEG Allianz, statt Industrie Versicherung, Dienstleistung; ich kann mir nicht vorstellen, dass die Allianz Angestellte hat, die Ringerolympiasieger sind.
Auch Seelenbinder war nicht Olympiasieger. Es hat nicht geklappt: Auf dem Treppchen stehen, den Lorbeer aus Olympia aufgesetzt bekommen – 1936: war ja auch die Olympiade des Sportkunstgewerbes – und statt den Arm zum Faschistengruß zu strecken, ihn halbhoch aufheben, die Faust ballen: Rot Front! Der Mann, an dem das scheiterte, hieß Cadur, aus Schweden, punktete Seelenbinder in der 5. Runde klar aus.

Durch den Tunnel unter der Elsenstraße hindurch zum Bahnhof Treptower Park. Der Tunnel ist mit Europamitteln erneuert. Europa finanziert Untergründiges. Weiter durch den Bezirk mit der S6 bis Adlershof. Die Dörpfeldstraße ist eine einzige Baustelle. Dörpfeld selbst war ein Gräber von Graben: Olympia hat er auszugraben geholfen aus dem Schutt der Zeiten, die Palästra, Ringerstätte am Fuße des Zeustempels am Kiefernhain. Olympia war überhaupt eine Grabungsstätte der Deutschen. Der ehrliche Curtius aus Lübeck, der die Grabungen leitete am Ende des [vor]vorigen Jahrhunderts, war der erste große Ausgräber der Antike, der die Funde nicht klauen wollte. Alles blieb da, wo es hingehörte, kein Olympiamuseum in Berlin, ganz anders als Pergamon, keine archäologischen Weltmachtspiele. Da war Dörpfeld als junger Mann dabei; später war er selbst Chef, drei Grabungskampagnen Anfang des [vorigen] Jahrhunderts und in den 20er Jahren; sein abschließendes großes Buch über Alt-Olympia erschien 1935, ein Jahr vor der Nazi-Olympiade: die Deutschen waren die eigentlichen Haupt- und Oberolympier. Da hat sich Olympia ’36 an eine Tradition rangeklebt, von der die olympischen Kunstgewerbler gar nicht wussten, dass Adolf Hitler sie schon am Zopfe hatte; faschistisch grüßte er die Olympiafahne und betörte die große Welt, während die Seelenbinders, die die Antike gar nicht auf den olympischen Weg hätte gehen lassen, weil sie kleine Leute waren, noch glaubten, sie könnten dagegen halten, indem sie ein paar Zettelchen verteilten. O Seelenbinder, o Menschenlos.

Schienenersatzverkehr, Bus statt Tram, der Fahrer ruft antifaschistische Namen: Wassermann, Geschke; vielleicht weiß er, wen er zitiert. Vielleicht nicht. Mit Straßennamen ist keine Politik zu machen. Auf dem Schlossvorplatz, der jetzt nicht nur örtlich, sondern auch zeitlich ein Vorplatz ist, treffe ich die originale Tram 60; sie fährt mich schnell in die Seelenbinderstraße, die ich nun von der Bahnhofstraße bis zum Hirschgartenweg gehe und auf der anderen Seite zurück. Je weiter ostwärts, umso beruhigter die Stimmung. Auf einer Bank an der Gelnitzstraße sitze ich im Pollenflug, habe das Amtsgericht mit seinem Gefängnishof hinter mir, der im frischen Grün vor der graubraunen Gefängnismauer fast friedlich daliegt: Ich bin selbst lange Richter gewesen, kein Gericht hat für mich wirklich etwas Freundliches, der gerade Scheitel des Helden-Amtsrichters Mandrella auf der Gedenkstele vor dem Tor weckt Fragen: wo verläuft die Grenze zwischen Gerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit; Selbstgerechtigkeit ist viel populärer, die Großwörter auf der Seelenbinder-Gedenktafel am Gericht bedeuten auch: nicht nachdenken, nicht fragen; wie müsste denn Widerstand heute aussehen, was müssen wir jetzt verhindern, damit wir nicht mutig sein müssen, wenn es zu spät ist? Vor allem Widerstandskämpfer, die gescheitert sind, werden staatlich gefeiert. Hinten in der Seelenbinderstraße gibt es noch Fabrikhallen, in denen man sich die Lebenswirklichkeit des Transportarbeiters Seelenbinder vorstellen kann; auch einen verwahrlosten, überwucherten Bahnhof. Alle solche Gleise sehen in Deutschland leicht wie Auschwitz aus.

Die Asche Seelenbinders ruht, ruht?, im Stadion Neukölln. Wie ist sie da hingekommen? Wer hat sie aufgelesen in Brandenburg? Diejenigen, die Seelenbinder rasch niedergedrückt haben auf das Brett, unter der Justizguillotine, das werden Leute gewesen sein wie er, die Akademiker, die den Tod unterschrieben, hielten sich zurück. Die Welt lässt sich unterscheiden in Faschisten und Antifaschisten, viel leichter in oben und unten.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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