Bezirksdurchquerung

Beten ist Audienz beim Höchsten. Mit diesem Satz fängt meine heutige Stadtwanderung an. Vor der Adventskirche. Die Kirche gehört zum Prenzlauer Berg; aber gleich gegenüber fängt Friedrichshain an; gegenüber an der Ecke Margarete-Sommer-/ Danziger Straße, liegt der nördlichste Punkt des Neubezirks Friedrichshain-Kreuzberg, der vielleicht demnächst oder irgendwann oder auch gar nicht „Berlin, 2. Bezirk“ heißen wird, dann ist der König Friedrich und das Militärkreuz weg aus den Berliner Stadtbezeichnungen. Ich will den Neubezirk, den es bisher nur als Ankündigung in der Verfassung gibt, von Norden nach Süden durchwandern. Sein Südpol liegt an der Dudenstraße oder ein kleines Stück weiter östlich, am Columbiadamm, am Rande des Flughafens Tempelhof. Dort berührt sich der Zweite Bezirk mit dem Neubezirk Tempelhof-Schöneberg und oben im Norden, wo ich jetzt bin, mit Prenzlauer Berg / Pankow / Weißensee. Wenn man Friedrichshain-Kreuzberg auf diese Weise durchqueren will, gibt es nur einen Weg, der vollständig im Bezirk verläuft: man muss über die Oberbaumbrücke.

Die Mitte des Bezirks liegt also, kann man sich vorstellen, in der Nähe des Schlesischen Tors: Ein Tor, durch das viele Nicht-Berliner kamen, als die Berliner für Berlin nicht genug waren; diese Tradition ist lebendig. Ich kann mir den geographischen Mittelpunkt dieses neuen verwaltungstechnischen Kunstbezirkes aber auch in der Nähe der Schillingbrücke vorstellen, dann findet man ihn wohl mitten im dunklen Wasser der Spree, in das eine stolze Stockente gerade ihre grafischen Muster zeichnet. Dort ist mein Ziel für heute. Jetzt betrachte ich an der Margarete-Sommer-Straße die freundlichen Erklärungstafeln; darauf heißt Margarete Sommer noch Werneuchen und Danzig noch Dimitroff. Über die staatlichen Tauf- und Umtaufaktionen komme ich nicht hinweg; mal gefällt den Offiziellen dieser Teil der deutschen Geschichte, mal ein anderer; etwas Ungeschichtlicheres gibt es nicht: Die Geschichte soll also aus der Gegenwart lernen, nicht etwa umgekehrt, wie gerne sonntagsgeredet wird.
Der Friedrichshain gibt dafür traurige Beispiele. Mit Friedrich, dem sogenannten Großen, fing das hier an; er gibt dem Hain den Namen, obwohl der doch angeblich fürs Volk war; das Gartenbauamt gräbt die Friedrichsbüste auf dem sogenannten Plateau wieder aus, wo die DDR sie versenkt hatte. Der Amtsleiter hofft, dass er alle Friedrichsstücke wieder findet. Warum hofft er? Ich kriege meine Eindrücke nicht auf die gedankliche Reihe. Das offizielle Straßenerklärungsschild nennt Margarete Sommer eine „Pädagogin“. Warum so lakonisch? Katholische Widerstandskämpferin. Der Widerstand erhebt sie. Das dürfte man nicht verschweigen, wenn der Straßenname pädagogischen Sinn machen soll. Oder soll er das gar nicht? Margarete Sommer vielleicht nur eine Proporz-Widerständlerin, nachdem es der DDR mit Namen aus dieser Geschichte vielleicht weniger um den Widerstand als um den Kommunismus gegangen war?

Damit bin ich durch das Schwimmstadion hindurch, das am Bezirksanfang malerisch verfällt. Zwei junge Frauen sonnen sich auf den hinfälligen Stufen und wollen schon die Büstenhalter lösen, als Jagusch sie fragt, ob er sie fotografieren darf. Am Ende der Sommer-Straße geht es 130 Stufen direkt nach oben auf den kleinen Mont Klamott. Gedankenverloren laufe ich viel zu schnell hinauf. Mein Herz schlägt heftig. Wir fühlen neue Kräfte, / Gewaltig stiegen Säfte, / Wir waren wieder flott / Am Mont Klamott. Im Gegenteil. Ich bin zwar oben. Aber keine steigenden Säfte, sondern melancholische Gedanken. Ich versuche, hier von dem nördlichen Bezirksberg den südlichen Bezirksberg auszumachen am Stadthorizont hinter Kirchen und Schloten: vom Mont Klamott den Kreuzberg: auch einen Kriegsberg, Verherrlichung der Befreiungskriege, die jedenfalls diejenigen nicht befreiten, die das Volk sind. Das Volk stellt die Gefallenen. Zum Beispiel die hiesigen, die Märzgefallenen. Niemand erinnert sich wirklich an sie. Sie sind nur Vorwände für Inszenierungen.
Ich will ihre Gräber nicht sehen. Der ganze Geschichtszauber stößt mich ab. Weg mit der Geschichte! Sie stiftet nur Verwirrung. Den Vögeln zuhören, den melodischen Sinnlosigkeiten. Die Aussicht, die volkstümliche Stimmung und eben die Rufe der Vögel – das ist das Schöne hier oben. Die Elster schnarrend, pfeifend, jekjekjek, ein Eichelhäher fliegt weg, die Amsel flötet ihre Stophen hoch endend, ein Grünspecht spielt leisen Trommelwirbel. Ein Bienenfresser? Ein Stieglitz? Ein Gartenrotschwanz? Ach, ich kenne die Vögel gar nicht gut genug, um sie so zu unterscheiden. Ich sehe Kindheitserinnerungen. Vom Südhang des Thüringer Waldes, am Horizont Coburg im verfließenden Blau, hinten, wo ich hier den Kreuzberg suchte, die Veste, hör doch, sagte meine Mutter, die ich bewundere wegen ihrer Schönheit und weil sie meine Mutter war, hör doch die Drosseln, die Amseln, die Nachtigall schlägt. Am liebsten höre ich den Zeisig. Er rief meinen Namen. Wo sind die vergangenen Jahre? Da stehe ich Luft schnappend auf den Klamotten meiner eigenen Geschichte und will gar nicht mehr wissen, woraus sie besteht.

Vorbei an den Hyazinthen an der Friedenstraße, in die Strausberger. Linker Hand das Fried-Gymnasium: „Solidarität bei rassistischen Übergriffen! Wer schweigt, stimmt zu!“, es freut mich, dass „Solidarität“ für die Gymnasiasten ein Wort mit moralischem Plus ist; jetzt wollen sie für die Strausberger Straße den Namen eines wirklichen Märzgefallenen haben. Die Gymnasiasten wollen eine Adresse nach einem Schlosserlehrling, der mit verrostetem Säbel auf einen Offizier schlug.
„Hier isses schön. Da will ich ers mal meine Ruhe hahm!“ sagt die Sozialarbeiterin, die gerade im Classic-Café am Strausberger Platz Platz nimmt. Ich bin auch kaputt. Die Füße schmerzen. Das Herz ist mir schwer. Ich komme heute nicht bis in die Mitte des Neubezirks, wo immer die liegt. Ich will erst mal meine Ruhe haben. Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, lese ich.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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