Durch die Mitte Mittelstraße

Für diesen kleinen Aufsatz über die Mittelstraße bin ich dreimal hingegangen, abends, mittags, morgens, in fröstelnder Dunkelheit, am feuchten grauen Tag und am kalt-blauen Morgen. Ich dachte schon, die Mittelstraße ist kompliziert. Ist sie aber gar nicht. Am besten versteht man sie, wenn man ihren Namen ernst nimmt: Die ältesten Straßen der Dorotheenstadt sind Lindenallee (noch nicht hochgewachsen zu Unter den Linden), die Letzte Straße (noch nicht verwandelt zu Kurfürstinnen- oder Arbeiterfürstinnenstraße), in der Mitte die Mittelstraße. Sie führt an den Rück- und Hofseiten ihrer Schwesterstraßen entlang. Wenn es vorne hinter den Prachtfassaden ungemütlich wird, kann man schnell – brechtgemäß: zwei Ausgänge in diesen unsicheren Zeiten! – hinten hinaus.
Am Silvesternachmittag, als es Unter den Linden schon aus den Jahresendboxen dröhnte, traf ich hier keinen Menschen. Nur den Polizisten vor der US-Botschaft an der Neustädtischen Kirchstraße, der mich schon auffällig unauffällig beobachtete, als ich vor Schadows Haus stand, Schadowstraße 11, auf das die Mittelstraße zuläuft; die Supraporten fehlen, die vom Meister sorgfältig beschriebenen, und das Ganze sieht schon wieder vergessen aus; es war schon mal kaputt und fast hin.

Die Werke des Meisters sind in die Museen eingegangen; seine anständige, die Proportionen nie verfehlende Kunst quadrigiert zwar noch auf dem Brandenburger Tor um die Ecke, aber auch dort oben ist sie eingeschlossen in Bedeutung, verlogot ins Nationaldemokratische, Briefmarkenbekannte: Eine Frau, die gesiegt haben will im Kriege der Männer oder den Frieden darstellen möchte, nachdem die Felder mit Menschenleibern gedüngt sind – diese Ideologie hat nie gestimmt. Von Schadow ist die Ideologie aber nicht; gegenüber von seinem clever erkönigten Haus, das der schwindende Tag jetzt hinter mir verdunkelt, stand die Dorotheen- oder Neustädtische Kirche, von der nur ein Parkplatz übrig geblieben ist, für Berechtigte, und in dieser Kirche eines der schönsten Bildwerke, das es aus einheimischer Kunst gibt, jetzt in der Alten Nationalgalerie, um der Sonntags- und Touristen-Langeweile aufzuhelfen: ein toter Knabe, als Schmetterling fliegt seine Seele auf, der jugendschöne Tod senkt die Fackel: so schön kann der Graf von der Mark nicht gewesen sein, Sohn einer energischen Mutter, die wusste, was sie wollte: nämlich den König, und den bekam sie auch, einen charakterschwachen, geistergläubigen Mann. Das Standbild hat etwas Skandalöses, nicht wegen der Unehelichkeit der Geburt, sondern wegen der Süße, von der man nur ahnen kann, woher Schadow sie genommen hat; in dem Marmor aus Freiberg war sie ja nicht von selbst zur Ruhe gegangen, so dass sie nur hätte geweckt werden müssen.

„Kann ich Ihnen helfen?“ fragt mich der Polizist. Aber es klingt nicht freundlich, eigentlich will er mich fragen: Was machen Sie denn da mit Ihrem Notizbuch? Da bin ich an dem schießschartigen Gebäude schon vorbei, das der Bundestag, geschmacksunsicher, in das Karree Linden-/ Schadow-/ Mittel-/ Neustädtische Kirchstraße gesetzt hat: Sehr speerig; hatte (denke ich) die Naziarchitektur Albert Speers also doch etwas Stilbildenes, Überzeitliches? Die Architekten bewundern ihn bis heute: gleich hinter dem Führer und sein Herz erreichend: ein junger Architekt – das weckt eben immer noch Träume. Anderentags – als der Himmel blau und hell war – gefiel mir das Bundestags-Gebäude zwar nicht besser, aber die Dämonen waren fort.
Die Vergangenheit der US-Botschaft ist die Vergangenheit eines Kaufhauses; 1886/87 gebaut: Warenhaus für Armee und Marine, Army und Navy Store, nach berühmtem Londoner Vorbild; da sehe ích Clarissa Dalloway hineingehen an jenem Tag, den Virginia Woolf beschrieben hat, die allerdings dieses Gebäude hier und die ganze deutsche Hauptstadt grässlich fand. Vor den Deutschen hatte sie Angst. Nicht ohne Grund, wie wir wissen.
Ein Stückchen weiter: Das ZDF von hinten; nachts ein gähnendes Loch, tags eine beherrschte Baustelle: der Zollernhof, der Unter den Linden mit baugeschichtlich berühmter Fassade repräsentativ beginnt, endet hier. Das ZDF versucht hier zwar eine etwas unmainzerische Prächtigkeit, aber es ängstigt nicht. Indem man über das ZDF ein ironisches Wort sucht, bleibt es einem schon im Halse stecken. Viel zu kritisieren gibt es an dieser unadenauerischen Öffentlich-Rechtlichkeit nicht: Diesen Schuss mittelständischer Landeshauptstädtischkeit kann die Bundeshauptstadt gut gebrauchen, indem sie sich nur nicht einbilden soll, journalistisch ein Weltniveau erreicht zu haben, von dem ich – indem ich US-amerikanische Zeitungen von heute lese – nicht weiß, ob ich es ihr überhaupt wünschen soll.

Gegenüber sieht man – im Dunkel mit dem Rücken zum ZDF stehend und hinüberblickend zu der schwimmbadlichen Rückfront des Maritim-Hotels, das zur Dorotheenstraße hin so prächtig tut – die dicken Bäuche durchs regenerierende und vorbereitende Wasser prusten. Dann kommt schon gleich die polnische Apotheke.
„Was war man denn, wenn man 2. Rezeptar war?“, frage ich die Apothekerin, weil ein Plakat hinter ihr auf Theodor Fortane hinweist, der hier in seinem erlernten Beruf gearbeitet hat. „Vor allem war man nicht erster Rezeptar“, sagt sie. Und hat Recht. Nichts Wohlfeiles über Fontane. Allmählich würde es Zeit für ein bisschen was Kritisches über ihn, weil er das Wesentliche auch nicht mitgekriegt hat.
Wer im Adressbuch aus der Mitte des [vor-]vorigen Jahrhunderts über die Mittelstraße nachschlägt, der wundert sich, wie viele Schneider hier gewohnt haben. Über 100. Berlin war dabei, sich zu einem Zentrum der Bekleidungs-Manufaktur zu entwickeln, Schneider war ein harter, früh vernichtender Beruf.
Es war kein Zufall, dass unter den Revolutionären von 1848 so viele Schneider waren. Fontane sah scharfsichtig eine Zeit untergehen, die Zeit die aufging sah er weniger deutlich.

Jetzt liegen seine Werke in feilen und wohlfeilen Ausgaben über die Straße, drüben an der Ecke, bei Dussmann, in dem verdienstvollen „Kulturkaufhaus“; intellektuelle Buchhändler rümpfen die Nase, wieder einmal soll die Kultur untergehen, weil die Bücher billig werden. Nein, nein: Die Gefahren für die abendländische Kultur sind andere.
Nachdem ich an Dussmann vorbei bin, endet die Mittelstraße an der Stelle, wo sie als Nummer 1 begann: wie in einer guten Stube; heute mittag ist dieses Anfangs- oder Endstück der Straße baustellengesperrt; hier schließt die Staatsbibliothek die Mittelstraße ab, vor der die Gelehrten in Stein sitzen, dass man wirklich nichts anderes von ihnen erwarten kann als Staatstragendes.
Die deutsche Groß- und Staatswissenschaft – das war nichts, großmäulig wie die Fassaden von Hofbaumeister Ihne, mit der er die Mittelstraße nach Osten schloss, als die Mitte schon verloren war. Mittelstraße Nr. 1 – das Haus passt also hierher: Das Haus des deutschen Ingenieurvereins, der nach dem europäischen Bruderkrieg von 1870/71 zu Macht und Einfluss gelangt war: die Moderne sich hinter dem Märchenhaften versteckend. Als ob man von Anfang an gewusst hätte, dass diese Moderne etwas ist, worüber man besser schweigt. Die Geschosseinschläge aus dem zweiten Weltkrieg, die man in den unteren Regionen noch erkennt, wirken demgegenüber fast harmlos.
Wenn es doch wahr wäre: Was vorbei ist, ist vorbei. Wir müssen unser Herz an das Morgen wenden.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Bundesarchiv, Bild 183-S99675 / Kümpfel / CC-BY-SA 3.0

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