Lilli Henoch, Gedächtnis-Weg

Diesen Spaziergang unternehme ich für Lilli Henoch. Mein Vater war einer der ersten deutschen Leichtathleten, sein Bruder mehrfacher Deutscher Meister in den 20er Jahren. Ich kenne viele Geschichten über die Anfänge, aus denen der deutsche Sport das wurde, was er jetzt ist. Lilli Henoch gehörte zu derselben Generation. 1899 geboren, Deutsche Meisterin in zehn Disziplinen, Weltrekordlerin im Kugelstoßen und im Diskuswerfen.
Ich steige an der S-Bahnstation Greifswalder Straße aus. Die Straße, die südlich an der S-Bahn entlang, auf die Schwimmhalle im Thälmann-Park zuläuft, heißt nach Lilli Henoch; seit 1993, da war die Namensgeberin schon länger als ein halbes Jahrhundert tot, 1942 aus Berlin in das Todesghetto Riga deportiert, dort „verschollen“, wie es beschönigend heißt, umgebracht, ermordet ist das wahrscheinlich richtige Wort.
Die Straße führt in ein Ensemble von Plattenhochhäusern, aus deren hohen Fenstern man wahrscheinlich nach Süden auf Berlin hinunter sehen kann. Für Autos ist die Straße eine Sackgasse, aber als Fußgänger kommt man weiter in die Ella-Kay-Straße. Während ich diese Straße abwärts gehe, denke ich, ehe sie sich zur Danziger Straße wieder erhebt, an Ella Kay. Diese sozialdemokratische Frau kannte ich, als sie Westberliner Senatorin für Jugend und Sport war, ich weiß noch, weswegen sie von diesem Amt zurücktrat; sie wusste, dass ein Minister die Verantwortung trägt für das, was in seinem Ressort geschieht und sich nicht mit der Behauptung davonstehlen kann – wie gerade jetzt andere -, nichts davon gewusst zu haben.
Als gerade 30-Jährige war Ella Kay 1925 Leiterin des Jugendamtes Prenzlauer Berg geworden, 1933 entlassen, von nazistischen Deutschen, 1947 Bezirksbürgermeisterin, schnell entlassen, diesmal von kommunistischen Sowjets.
Die Fröbelstraße führt mich in westlicher Richtung am Krankenhaus vorbei, das hier baulich den Anstaltscharakter seiner Entstehung zeigt, so dass die Mitteilung am Eingangsschalter besonders freundlich wirkt: „Es spricht mit Ihnen Herr Müller“, am Eingang Danziger Straße: „Herr Hornig“.

Nachdem ich auf dem Weg in die Rykestraße die Danziger Straße überquert habe, nunmehr die dritte Straße, die ihren langzeitigen Kommunistennamen verloren hat (wer weiß, ob das nicht Geschichtsklitterung ist), lerne ich ein neues Wort: hinter dem Modeladen für starke Frauen (oder sogar „Weiber“?) sind 150 Quadratmeter zu vermieten, „allbranchig“, dort geht es nach links in die Rykestraße, die nach einem seit Jahrhunderten vergessenen Berliner Bürgermeister heißt. Sie hat von Anfang an etwas Berlin-Klassisches, das erste Haus beherbergt ein „Video Center Mega Star“, das hört sich neumodisch an, aber es ist Zeitgeist und die heutige Form von Stadtklassizität, Neubauten, Renovierungen, fortgesetzter Verfall; an Nummer 24 kann man noch die vorzeitliche Inschrift lesen: „Foto-Drogenhandlung“, „Korbwarenfabrik mit Forstwirtschaftlichen Erzeugnissen“, darüber malerisch abgestürzte Balkons.
Eine Fassade nach der anderen hebt sich aus dem Verfall heraus; viele individuelle Gestaltungsversuche, fröhlich im 2. Stock von Nummer 9 drei blaue neben vier grünen Fenstern. Am Haus Nummer 22 wird an Johannes Wolf gedacht. Der Name gibt mir zu denken, einer der letzten Leiter der einst gegenüberliegenden Jüdischen Volksschule hieß Johannes Wolf, aber dessen wird nicht ausgeschildert gedacht, der namhaft gemacht Wolf war ein Arbeiter, Kommunist, den andere Deutsche, Richter und Gefängnisbeamte, im Zuchthaus Brandenburg umgebracht haben, weil er den Krieg kritisierte.
Das war 1943. Da war die Jüdische Volksschule, gegenüber im Haus Rykestraße Nummer 53, schon nicht mehr da. Und auch die Synagoge hinten im Hof geschlossen, die jetzt umgeben von den Rückfassaden der Knaack- und der Wörther Straße ruhig und würdig daliegt.

Der Hof liegt still. Die Volkssolidarität, die im Vorderhaus lange Jahre domizilierte, ist beim Ausziehen. Keiner stellt mich zur Rede, als ich auf den Treppen der Synagoge sitze, ein paar kleine Zeichnungen herzustellen versuche und die Stimmung des Ortes in mich aufnehme.
Als die Jüdin Lilli Henoch aus dem staatlichen Schuldienst 1933 entlassen wurde (und übrigens auch aus dem Sportverein verstoßen, für den sie so viele Erfolge ersiegt hatte), fand sie hier in der Rykestraße Beschäftigung als Sportlehrerin. Sie war streng, hieß es, die Leistungssportlerin verlangte Leistung.
Die Jüdische Schule in dem eindrucksvollen Bau, gekrönt jetzt, ich glaube: wieder, mit doppeltem und – wenn man das schmiedeeiserne Gitter mitzählt – mit vierfachem Davidstern, hat eine Geschichte, die – weil sie auch Auseinandersetzungen innerhalb der Berliner Judenschaft umschließt – heute untergegangen ist in der vereinigenden Mördergesinnung, mit der Deutschland das deutsche Judentum ganz unabhängig von der Frage verfolgt hat, wie es sich selbst verstand.
Also vergessen wir jetzt die Differenzierungen, die, auch wenn man sie zur Kenntnis genommen hätte, natürlich keine der Taten gerechtfertigt hätten, mit denen die Deutschen sich um die jüdischen Traditionen brachten.
Die Schule in der Rykestraße war pädagogisch fortschrittlich, keine Strafen gegen die Kinder, Pädagogik der Einsicht und der Freiwilligkeit. „Die Lehrer und Lehrerinnen lehrten nicht nur, sie brachten uns alles Schöne in der Sprache, in der Literatur, auf allen Gebieten nahe“. Ein rührender Satz einer ehemaligen Schülerin: „in der Sprache, der Literatur“: der deutschen Literatur also, der deutschen Sprache die ihre Schönheit ja dadurch nicht verlor, dass sie auch die Sprache der Mörder war.
1936 gingen über 700 Kinder in diese Volksschule. Schließlich war sogar eine Dependance nötig; in der Choriner Straße, dorthin ging auch Lilli Hennoch. 1938; ich blicke auf ein Foto aus diesem Jahr, sie sieht fröhlich aus, lacht über den breiten ausdrucksvollen Mund, auch ein Stück ihrer autogrammgeübten Unterschrift ist noch zu sehen.

„Wenn du Eis im Mineralwasser willst, sagste Bescheid“, sagt die Wirtin im Café am Wasserturm zu mir, „ich habs jetzt erst mal rausgelassen, weils überhaupt so eisig ist.“ Eisig sind die Erinnerungen, die die Gegend von unten her gefrieren lassen. Solange man’s weiß. Gedenktafeln machen das alleine nicht. Für Lilli Hennoch gibt es hier noch nicht mal das.
Während ich das schreibe, denke ich an meinen Vater, der genauso alt war wie diese jüdische Frau, auch ein Leistungssportler, im Hochsprung hatte er den Auswahlwettbewerb für Olympia 1916 gewonnen. Wahrscheinlich hat er Lilli Hennoch gekannt.
Es fängt an leise zu regnen, als ich die Kollwitzstraße abwärts zur U-Bahn gehe.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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