Amalie: Trenck und Taut

Vorgestern in Treptow. Um mir anzusehen, wie Bruno Tauts Reform des Arbeiterwohnungsbaus begann, 1913, farbig: Tuschkastensiedlung. Ehe sich das steinerne Berlin für Arbeiter reformierte, hatten die Bessergestellten für sich mit Reformen des Ihren schon begonnen.
Dafür nach Pankow. Die Bewegung war zwar dieselbe: erst hinein in die Stadt, die Stadt ansammeln, vergrößern, die Fassaden schließen, dann heraus aus der Stadt, Gartenstadt, Landhäuser, Parks.
„Vergleichen wir nun – um ein Beispiel zu haben – (sagt der Professor) den Akazienhof am Falkenberg in Treptow und den Amalienpark an der Breiten Straße in Pankow. Es gibt strukturelle Ähnlichkeiten, gewiss: um einen Hof, einen Park herum ordnet sich das Private, das wenigstens den Anschein erweckt, dass es gelegentlich auch ein Öffentliches sein könnte…“
Ach nein, das ist kein Anfang. Pankow liegt viel zu weit weg von Treptow, als dass man da viel vergleichen könnte. Vielleicht eine kleine Geschichte: Reise der Christa Wolf aus dem Amalienpark in Pankow zu Anna Seghers in der Volkswohlstraße in Treptow, von den feinen zu den kleinen Leuten… nein, nein, das ist auch nichts, da stimmen die Daten wohl nicht, und Anna Seghers ist im Vergleich zu der zeitgenössischen Frau immer eine große, woher die auch kommt: Diese Reise ginge immer aufwärts.

Erinnere mich, Muse, statt dessen ans Ferne, das hinter den Zeiten verschwunden ist. Warum nennt ein 52-jähriger Königlicher Baurat, Architekt namens March, Otto, seinen städtebaulichen Versuch, über den sich fast noch besser reden als darin wohnen lässt, gerade nach dieser Preußenprinzessin Amalie, Schwester des bekannten königlichen Friedrich: eine Frau voller Launen, einst schön, dann – wie wir alle – weniger, schwer musikalisch, Spinett, Klavier, Laute, Flöte wie der vermentzelte Bruder, Bach-Autographen im Schrank, Komponistin von Militärmärschen, aber auch von süßen Weisen: „Wenn ich einsam zärtlich weine…“, ohne Mann, ohne vorzeigbaren Mann, vielleicht die frühe Geliebte des Trenck, Garde du Corps, den der königliche Bruder zehn Jahre in Ketten legte, 60 Pfund schwer um Hals und Fesseln, geflüchtet, entkommen, eingefangen, entlassen, um am Ende den Kopf in Paris zu verlieren – nicht an eine Frau, sondern durch die Revolution, unter der Guillotine, ein Geheimdienstmann wohl; die Liebesgeschichte mit der Prinzessin ist wahrscheinlich erfunden, Sensationsjournalismus, Fiktion, die Gefängnisse, die Folter, die Guillotine waren allerdings echt.
Wieso gehört diese Geschichte hierher nach Pankow unter die feinen Leute, in den Amalienpark, der eben 100 Jahre alt geworden ist?
Der Sohn des Vaters, der sich hier architektonisch verewigte, lebt fort durch das Olympia-Stadion (Goldmedaille 1936: damals hatte man die Idee, dem Wettkampf der Muskeln einen Wettkampf des Geistes … will ich wirklich nicht sagen … nebenan zu stellen: Gold für Stadien: Werner March, Deutschland, 3. Reich. Karinhall für den Nazi-Kondottiere G hat er auch gebaut, davon blieben nur wenige Trümmer in der Heide), als Papas Amalienhof fertig war, war er drei Jahre, als alter Mann erhob er von seiner Lehrkanzel in der TU Widerspruch gegen die Kahlschlagsanierung Westberlins durch den Brandt-Senat… ja, ja: so kann man das sehen.

Was erzählt mir da die Muse, während ich unter der Platane sitze inmitten der Häuser, die eins nach dem anderen renoviert und – sobald fertig – besetzt werden (bilde ich mir ein) von Wirtschaftsberatern, Rechtsanwälten, Ärzten und überhaupt solchen, die in die Taschen greifen können.
Die 100-jährige Geschichte ist dann nur noch Illustration für das neue Wohngefühl, Geschichte erhöht Wohnwert. Einen bedeutenden anderen Sinn hat sie nicht. Was auszieht, kann vergessen werden.
Was denke ich da, auf der schwarzen Bank unter dem stolzen Baum, der seine Geschichten für sich behält oder sie vielleicht auch herunter sinken lässt? Ich sehe: Patienten, Klienten, Mandanten, Kunden, vor allem Bauhandwerker … gerade da – bin ich ein Minütchen eingeschlafen und träume? – kommen fünf junge Mädchen, schüchtern-herausfordernd, eine Lolita dabei, auf mich zu, die Videokamera läuft, Joana, ihre Freundin hat Geburtstag, sie wollen akustisch-visuelle Glückwünsche einsammeln.
Joana, du denkst doch nicht, dass ich zufällig hier sitze mit meinem weißen Strohhut und meinem knallroten Hemd mit Ausrufezeichen von Joop? Sondern ausgeschickt von der guten Fee Amalie, dir einen Glückwunsch in den Amalienpark zu bringen, er wird dir nützen wie … wie ein Glückskiesel, durch Jahrhunderte glattgeschliffen in den Tiefen des Ganges. Hin auf den Flügeln des Gesanges! Dort weiß ich rot blühenden Garten…
Ich muss demnächst wiederkommen, den Amalienpark ohne Feenbeeinflussung und ohne Bildungsreminszenzen beschreiben, wenn er seinen Jahrhundertgeburtstag hinter sich hat und wieder jung ist.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Mangan2002, CC BY-SA 3.0

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