Von der Grunow- zur Wollankstraße I

Ehemaliges Waisenhaus der Jüdischen Gemeinde

Die Herren aus Pankow, sagte Adenauer, wenn er die Feinde benennen wollte, die niemals recht hatten. Mit dieser Formel bin ich aufgewachsen; halb nahmen wir sie ernst, halb ironisierten wir sie, als wir sie in der Schule immer wieder verwendeten, um die zu benennen, von denen wir uns nicht sagen lassen wollten: die Lehrer des Katharineums in Lübeck zum Beispiel, unter denen sich manche Nazis gehalten hatten.
So ging von Anfang an vieles durcheinander. Wen hat der Kölner Kanzler eigentlich gemeint? Johannes R. Becher doch nicht; Weinert, Fallada, Arnold Zweig, Ossietzky schon gar nicht, obwohl sie ihm alle wahrscheinlich wenig sympathisch waren. Die Frage ist historisch, sie kann unbeantwortet bleiben.
Wir können Adenauer unter seinen Rosen und Wilhelm Pieck unter seinen Genossen ruhen lassen. Männer von gestern, von vorgestern. Wilhelm Pieck hat hier gewohnt, im Schloss amtiert, bis er mitsamt seinem Präsidentenamt aus der DDR verschwunden ist.

Die meisten Pankower Offizialgebäude, die ich heute sehen werde, sehen so aus, als ob es die DDR nie gegeben hätte. Zuerst sehe ich das Gesundheitshaus in der Grunowstraße, die unverändert nach dem Landbesitzer aus dem 19. Jahrhundert benannt ist, dem die Felder gehörten, bevor sie Straßen wurden. Meine Eltern hatten aus einem Jenaer Kunstgewerbegeschäft einen Aschenbecher, der in demselben Stil dekoriert war wie das Gesundheitshaus. Eilert Franzen hieß der Architekt. Er kommt mehrmals vor in Pankow.
Oder William Wolffs Musikschule in der Schulstraße Nr. 2. Es wird immer noch Musik gelehrt in dem Haus. „Musik Kabinett“ steht jetzt dran, das klingt mehr nach Vollendung als nach Pädagogik, aber es wird immer noch um dasselbe gehen. Auf dem kleinen, die Szene ins Idyllische verwandelnden Parkplatz davor schildert eine Pankowerin einer anderen, wie sie den soundsovielten Geburtstag ihres Mannes gefeiert haben auf einem Schiff der Weißen Flotte: „Und dann hat mein Mann eine sehr schöne Rede gehalten. Mir sind direkt die Tränen gekommen“. Es beginnt zu regnen.
Im „Ei“ gibt es Milchkaffee aus großen blauen Töpfen. Auf dem bunten Zirkusbild an der Hauswand gegenüber sehen die Akrobaten wie Turner aus, eher ernsthaft als lustig, auch wenn sie die Lippen verziehen.
Aus Pankow stammt einer der tollsten Jongleute aller Zeiten, fast so gut wie Rastelli, er hieß Adolf Salerno, ihn hat Adenauer gewiss auch nicht gemeint. Ich blicke über die Straße, die den Johannes R. Becher abgestreift hat und wieder heißt wie sie ist: breit.

Der Bundestagsabgeordnete Gerd Poppe, der neben „Bertis Schreibparadies“ sein Büro hat, macht uns darauf aufmerksam, dass das Haus ursprünglich einer Familie Fischer gehörte; Fischers waren die ersten Juden, die aus Pankow in eine staatliche Todesfabrik transportiert worden sind. Wer waren die Nachbarn? Die Treuhand, schreibt der Bundestagsabgeordnete, ließ durch Missmanagement die Zigarettenfabrik Garbaty sterben, Anfang der 1880er Jahre gegründet von Josef Garbaty-Rosenthal, zu Beginn des [vorigen] Jahrhunderts in der Berliner Straße angesiedelt, Erweiterungsbau 1930 von Höger, dessen Lebensdaten denen meines Großvaters gleichen, damit ich weiß, wie alt die Moderne ist.
Dicht dabei (Berliner Straße 120/121) das ehemalige Waisenhaus der jüdischen Gemeinde, nach Vertreibung der Waisen zog das Reichssicherheitshauptamt ein; die Täter in das Haus der Opfer, so ist es immer.
Die Tegel anlandenden Flugzeuge ziehen niedrig herein über den mitten in der Breiten Straße liegenden Dorfanger, der nichts Dörfliches mehr hat.
Das Schönste an der Kirche sind die Türme. Sie sind von Stüler, der an vielen Orten am Charakter Berlins mitgebaut hat. Ein Alter fährt auf seinem Fahrrad bei Rot über die Ossietzkystraße, als ob er dächte: „Von Rot lass ich mir gar nichts mehr verbieten“, es kann aber auch ein ehemaliger General sein, der sich in seinem beruflichen Leben daran gewöhnt hat, dass Vorschriften nur für andere gelten.
Aus dem „Gambrinus“ muss man einen schönen Blick auf den traditionsreichen Wochenmarkt haben. Der Automarkt neben dem Groß-Bürgerhaus heißt Glück: „Glück Glück Glück“.

Gegenüber im Plattenbau die Buchhandlung, die den Seriennamen „Kiez“ mit Heinrich Mann verbindet, ich wollte schon feststellen: In den vielen Fenstern kein einziges Buch, das Heinrich Mann gekauft hätte, aber im letzten Fenster gibt es die Kompilation der Mann-Nichte, auch den großartigen Brodkey, das wäre was für Heinrich gewesen und natürlich Goldhagen: ich glaube, der Lübecker Großkaufmannssohn hätte dem jungen amerikanischen Historiker zugestimmt: es gibt besondere Bedingungen in Deutschland, die soviele Eltern und Großeltern zu Mördern und Mordgehilfen haben werden lassen.
Wollen wir die Debatte um die DDR und ihre Hinterlassenschaft beenden bis ein weiteres halbes Jahrhundert vergangen ist und statt dessen gemeinsam die gemeinsame Nazi-Geschichte aufarbeiten?
Was würde denn sein, sagt meine Freundin, wenn die Wehrmachtsausstellung, die jetzt in Wien und München so viele aufbringt, im Rathaus Pankow gezeigt würde unter dem imitierten Marmor und den Löwenköpfen aus scheinbarem Gold?
Ach, was sind das für Fragen, lange stehe ich vor den Fotos der Bezirksverordneten und der Bezirksamtsmitglieder, die an goldenen Ketten im Vestibül des Rathauses hängen, die Stadträte und die Verordneten sehen aus wie wir alle; es reicht nicht, dass wir uns ansehen, um herauszubekommen, wie wir denken und wie wir denken müssen, wenn wir Zukunft haben wollen.

Das Pankower Rathaus hat aus vielen deutschen Zeiten etwas, von der DDR hat es offenbar wenig, man kann um das Gebäude herumgehen, vorne ist es rot, hinten gelb; Pöschke und Klante heißen die Architekten die den sparsamen Expressionismus an der Ecke zur Neuen Schönhauser Straße angebracht haben.
Auf dem Hof schauen Kinder, sie zeigen mir den Effe-Finger und machen sich einen Spaß daraus, mich zu fragen, wie’s mir geht, bis einer ruft: „O! Der schreibt!“; da sind sie alle hinter dem Fenster verschwunden, vielleicht ist auch die Lehrerin hereingekommen und der Geschichtsunterricht hat begonnen.
Hoffentlich hören sie etwas, was sie wissen wollen. Von Wilhelm Kuhr werden sie nichts wissen wollen. Während ich in seine Straße einbiege, überlege ich, was ich von ihm weiß. Das erzähle ich im nächsten Kapitel. Mir ist von Pankow die Seele ein bisschen übergegangen, ich habe abseits vom Wege gedacht. Ich muss mich beruhigen.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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