Um den Hauptbahnhof

Ich komme aus der S-Bahn von Westkreuz. Die S-Bahnlinien S3, S5, S7, S75 und S9 sind hauptstädtische Attraktionen. Sie gehen mitten hindurch durch die werdende Regierungsstadt. Um den Reichstag führen sie in einem respektvollen Bogen.
Der bekofferte Mann mir gegenüber will auch zum Hauptbahnhof [heute Ostbahnhof]. „Haste den Reichstag gesehn?“ fragt er seine Frau, als wir ihn nicht mehr sehen. „Hm“, haucht sie und rückt näher an ihn heran, als ob man Mitleid mit dem gequälten Bauwerk haben müsste. „Fahrgäste in Richtung Erkner verbleiben auf diesem Bahnsteig“, wird uns bedeutet, als wir am Hauptbahnhof angekommen sind. Das Wort „verbleiben“ missfällt mir. Viele „ver“-Wörter sind gefährlich.

Ich bleibe nicht. Eine Punkergruppe mit Hunden macht sich lustig über eine Gruppe junger Leute, die in den adretten Zugbegleiteruniformen der Bahn AG auch den Bahnsteig verlassen. Als ob das Punker-Habit nicht auch eine Uniform wäre. Ich verlasse den Bahnhof zur Erich-Steinfurth-Straße. Am Sonntagnachmittag ist das eine belebte Gegend. Eine vorläufige Gegend. Sie wird sich verändern.
Hier und da steht eine fröstelnde Gestalt, als werde auf etwas gewartet. Der junge Mann, nach dem eine Straße jetzt heißt, war ein kommunistischer Widerstandskämpfer gegen die Nazis und eins ihrer frühen Opfer, ermordet 1934, damals hieß die Straße nach einem preußischen Polizeipräsidenten, und das könnte eine Provokation gewesen sein.

Die sonntägliche Ruhe liegt über dem Quartier wie das Vergessen. Dies hier war eine proletarische Hauptgegend in der ersten Hauptstadtepoche Berlins. Rechter Hand steht mit leeren Fensterhöhlen ein Haus, von dem die Geschichte den Putz abgeschlagen hat. „Wechselstube“: „Die Himmel wechseln ihre Sterne…“ Das Nachbarhaus hat schon Anschluss gefunden an die neue Zeit: „McBarber’s. Das Friseurerlebnis“. Gegenüber sucht ein junger Mann mit Hund Einlass in die Bahnhofsmission. Der Hund muss draußen bleiben, leise schluchzt er und schweigt.
Der „Flotte Happen“ unterm Bahnhofsbogen ist am Sonntag zu. Ein Junge, der mit seiner ärgerlichen jungen Mutter entgegenkommt, tritt wütend gegen eine Bierdose, so dass ich schnell ausweichen muss. Der Junge sagt nichts zu mir, die Mutter nichts zu ihm.
Das Reklametransparent für „Take off Bier & Music Pub“ verdreht sich im Wind zur Unlesbarkeit. Am blauen Baucontainer der Fa. Hein aus Georgsmarienhütte wird auf Werbeveranstaltungen für Kanada und Neuseeland hingewiesen.

Vom City Carré aus sieht der Platz zwischen Kaufhof und Hauptbahnhof geordneter aus als beim Süd-Nord-Blick. Aber nichts sieht hier nach Kalifornien aus. „California World“ heißt das Eckgeschäft im City Carré, bei dem ich in die Lange Straße einbiege. Dieses von der Dresdner Bank dominierte Geschäftshaus, dessen Architekten sich von der Postmoderne angenehm zurückgehalten haben, verspricht in der Langen Straße eine Passage. Aber eine Passage, die am Sonntag zu hat, ist eigentlich keine Passage. Die Baubuden für das anschließende Bauprojekt zur Andreasstraße machen die Lange Straße für Autos zu einer Sackgasse, das gibt ihr etwas Privates. Im gepflasterten Eingang zum Inside Residence Hotel fegt der grünbewestete Hoteldiener in die Knie gehend Zigarettenkippen fort: „Ob allein, zu zweit oder mit der ganzen Familie – gerne sind wir für Sie da“: über die Grammatik dieses Werbespruchs für das Restaurant Intermezzo lässt sich nachdenken. Auch über die Wortschöpfung „Bistrorant“, die zu den Versprechungen gehört, mit denen der „Grundwert Fonds“ die Bauarbeiten zu seinem Großprojekt an der Andreasstraße begleitet.

Ich biege in den Andreasplatz ein. Das ist das Gelände zwischen den sauber renovierten Wohnblöcken der WBF zwischen Langer Straße, Kraut-, Andreas- und Kleiner Andreasstraße. Gleich vorne hat man einen Einblick in die Höfe, die die beiden letzten Altbauten der Andreasstraße hierher öffnen, eine alte Weide wächst von innen empor. Ich gehe an den grellgelben Drahtgittern vorüber, die die Müllcontainer ordnend einschließen, zur Kleinen Andreasstraße hinauf.
Wo die WBF auf dem Bauschild die Modernisierung und Instantsetzung weiterer 420 Wohnungen in „Plattensanierungsprogramm nach InstModRL 94“ anzeigt, sehe ich zu dem kleinen Pavillon hinüber, in dem junge Mütter mit ihren Kinderwagen sitzen, die nun ihrerseits mich mustern und sich wohl fragen: Warum glotzt der uns an? Aber ich glotze in die Geschichte. Als Berlin zum erstenmal Deutschlands Hauptstadt war, war dies hier eines der engsten und ärmsten Wohnquartiere. Weiter oben standen die Baracken in denen Obdachlose „troglodytenartig hausten“, die Polizei vertrieb sie im August 1872 auf so provozierende Art, dass die Arbeiter den Aufstand probten. Barrikaden an der Krautstraße. Die ganze Gegend, schrieb der Polizeipräsident, nach dem später unten die Straße benannt wurde: „Schauplatz ernstester Ruhestörung“. Eine Slumgegend. Später nannten manche das Quartier auch „Berlins Chinatown“, unter den Chinesen, die hier Unterkunft fanden, waren Tschou En-lai und Tschou Teh, die sich selbst noch nicht ansahen, dass sie Ministerpräsident und Armeeführer im bevölkerungsreichsten Land der Erde werden würden.
Ich folge dem Häuserbogen, der die Kleine Markusstraße bildet, bis zu dem gut besuchten Spielplatz, der friedliche Sonntagsstimmung verbreitet. Die Lange Straße nach Osten zurückgehend, studiere ich die Farbskala, die die WBF über die Stahlbänder verbreitet hat, mit denen die renovierten Fronten der Häuserblocks gehalten werden: vom lichten Gelb zum dunkelsten Rot in ein Blau, das sich nach Osten hin aufhellt. Die Leute nennen den Block „Regenbogenhaus“.

Rechts von der S-Bahn liegt hier als eine weite Brache das Areal, auf dem das erste große Industrieunternehmen dieser Gegend aufwuchs: 1843 begannt J. Pintsch als ein Klempnerbetrieb und wurde als Fabrik für Gasbeleuchtungs- und messanlagen ein Unternehmen von Weltruf.
Der Frontfassade seines mächtigen Verwaltungsgebäudes zur Andreasstraße (Nr. 71-73) kann man den gewesenen Weltmaßstab heute noch ansehen. Cremer und Wolffenstein hießen die Architekten. Das Haus steht direkt an der S-Bahn, in der Unterführung bläst mir der kalte Wind dreckigen Staub entgegen. Nach links und rechts kann ich weit in die erneuerten S-Bahn-Bögen blicken.
Auch die Gegend auf der Südseite des Hauptbahnhofs ist noch ganz unbestimmt. Hier und da hält sich noch Geschichte auf, aus unterschiedlichen deutschen Zeiten. Gegenüber unter den drei geschwungenen Giebeln aus Imitatbarock das Haus der ersten Gasanstalt, später Zentralmagazin der Städtischen Gaswerke. Daneben das Gemeindehaus der evangelischen Markus- und Andreasgemeinde; das weiße Kreuz ist stilgerecht aus Platten zusammengesetzt.
Die vielspurige Autostraße mit breitem Mittelstreifen trennt das Gemeindehaus von der Gemeinde. Gottesdienst heute in der Samariterkirche.
Zurück in den Hauptbahnhof, auf dem die Fernzüge zur Zeit nicht halten. Die Gleisanlagen werden erneuert. Die Bahn ist der große Träger der Renaissance dieser Gegend. Diese Rolle hat sie hier auch früher schon gespielt. Hinten sieht man ihr neues Verwaltungsgebäude in seiner gläsernen Symbolik.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Felix O, CC BY-SA 2.0

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