Gneist, Raumer, Helmholtz

Es gibt ja sicher längst Spezialisten, die haben die Wohnhäuser zwischen Gneist- und Raumerstraße mit – sagen wir – der Tuschkastensiedlung in Treptow verglichen. Beide Baukomplexe verfolgten zu ungefähr gleicher Zeit ähnliche reformerische Ziele und sind doch ganz anders.

Die Gneiststraße ist Stadt. Häuser für die Arbeiterklasse, deren ästhetisches Programm dem der Stadthäuser der Großbourgeoisie entsprach, keine Stadtlandschaft, nichts Gartenstädtisches, Stadt pur. Das Signet des Bauherren, der Berliner Gemeinnützigen Baugesellschaft, sieht nach Hamburg aus, jedenfalls nach Burg, es ist überall an den Fassaden zu sehen. Die Fassaden haben etwas Edles, aber auch etwas Dunkles. Zur Raumerstraße und zum Helmholtzplatz steigt die Gneiststraße von der Schönhauser Allee her leicht an. Sie hebt sich. Einige Fassaden werden renoviert, die anderen tragen ihren Verfall mit Würde, sie hoffen auf Erneuerung. Viele Balkone fehlen. Die DDR – das war der Staat, in dem die Balkone abbrachen. Die erste der mehreren charakteristischen Kneipen ist das „Eckstein“, Ecke Pappelallee. Ein passendes Caféhaus, kiezig und zugleich großstädtisch; bis 2 Uhr nachts auf, freitags und sonnabends sogar bis 3. Da weiß man, dass man in Berlin ist. Je länger ich hier sitze, um so deutlicher wird mir, dass die psychologisch-moralischen Probleme des neuen Deutschlands Altersprobleme sind; sie wachsen sich aus; die Jugend schiebt sie aus der Gegenwart in die Vergangenheit. Die Vergangenheit beginnt viel früher als wir Alten und Älteren denken. Ich blicke von meinem Tisch, an dem ich jetzt zur Mittagszeit frühstücke, in die Raumerstraße. Da denke ich an meinen längst verstorbenen Vater. Der Gedanke lässt Liebe in mein Herz strömen.

„Geht es dir nicht gut?“ fragt mich besorgt die Serviererin, die sieht, dass mir Tränen in die Augen treten.
„Im Gegenteil“; ich habe an einen Artikel gedacht, den mein Vater 1947 über Friedrich von Raumer geschrieben hat in seinem klaren ordentlichen Deutsch. Den Schlusssatz kann ich seit Jahrzehnten auswendig, ohne dass ich ihn auswendig gelernt hätte: „Die vermittelnde Tendenz seiner Natur resultierte nicht aus Schwäche, sondern aus der Erkenntnis, dass die Hälfte nie das Ganze sei,“ Während ich nun aufwärts zum Helmholtzplatz gehe, denke ich nicht an Raumer; der ist für mich und die Gegenwart nur ein Name, sondern an meinen Vater, der hier wohl niemals war, aber von dem ein Satz nun unter die erhöht stehenden Bäume des Platzes getragen wird: Die Hälfte ist nie das Ganze.
Ich bin nicht in der Stimmung, mich zu befragen, was das bedeuten könnte oder gar, was hier nun wohl das Ganze sei. Das Ganze ist jedenfalls etwas im einzelnen sehr verschiedenes.

Viele junge Leute in praktischer Sommerkleidung, lachend, sich am Leben freuend, einige ausgeflippte Typen, Penner unterm Grün in der Platzmitte, zwei von ihnen nehmen mich wahr, machen einen alkoholisierten Kommunikationsversuch, ich verstehe sie nicht, die Hunde betrachten mich aufmerksam; es gibt viele Hunde hier; die meisten sind Sozialarbeiter, kaum abzuschätzen, was die Hunde für die Menschen leisten; sie stellen soziale Normalität auch für manchen her, der sie selbst schon verlassen hat.
Aber auch Frauen gibt es, elegant bis in die Fußnägel, wenn sie auf der Schattenseite des Platzes gehen: Die Sonnenbrille hoch in die glänzend schwarzen Haare geschoben, unter denen das Tiefrot der Lippen wie die Farbe der Verheißung wirkt. In Wirklichkeit versprechen sie nichts. Sie zeigen sich nur. Und versuchen mit sich selbst zufrieden zu sein. Stilisierung schafft aber selten Zufriedenheit; und auch die modernisierte Dachwohnung mit der amerikanischen Küche machts nicht, wenn die Gegend nur Illustration sein soll, für die die zu Besuch kommen, aber dann doch ausbleiben.
„Tommy“, sagt der eine Knabe zum anderen, „ich hab dich die ganze Zeit gesucht!“
„Un ick dich ooch!“
„Da kam wir uns die ganze Zeit versucht“.

Als er mich die Front der Lettestraße betrachten sieht, die in unterschiedlichen Renovierungs- und Verfallzuständen die Nordseite des Platzes ausmacht, kommt ein höflicher Schwarzer auf mich zu; sonst erregt es meist skeptische Zweifel, wenn man mich beobachten und in mein Notizbuch schreiben sieht, endlich erkennt mal einer die positive soziale Funktion des öffentlichen Wortzeichnens: Sein Freund ist nicht da, dreimal hat er schon versucht, ihn zu treffen, ich soll eine Botschaft schreiben: „Lieber Heiko!“ schreibe ich auf Diktat und schließlich „Viele Grüße Dein Amin“.
„Sehr schön geschrieben!“ sagt Amin. Er lobt mich. Ich werde anerkannt.

Die blaue Eckkneipe, in der ich jetzt anfange, diesen Text zu schreiben, Raumer- Ecke Lychener Straße, heißt nach der leuchtenden Malerin Frieda Kahlo. Drinnen starke Rhythmen aus den Boxen, mein Nachbar draußen an den blauen Tischen hat trotzdem den Walkman drin und zuckt in seinen privaten Rhythmen. Zwei Wespen sitzen mir plötzlich im Haar. „Nicht so aufgeregt rumfuchteln“, sagt mein Nebenmann, der zwar die Ohren zu hat, aber die Augen offenbar ganz offen. Das gelbe Lokal gleich nebenan heißt „Alea iacta“ – Der Würfel ist gefallen: da ist es passiert. Aber was? Hier fließt kein Rubicon. Hier zieht niemand vorüber, der morgen die Welt beherrscht. Drei Männer und zwei Frauen setzen sich an den Nachbartisch; sie betrachten den Helmholtzplatz ganz geschäftsmäßig. Schnell fällt das Wort: „100%ige Auslastung“…
„Ich hab kein schlechtes Gefühl“…
„Auch wenn wir keine 100%ige Auslastung erreichen“…
„Die Gegend zeigt klar nach oben“, sagt eine der Frauen…
Sie schieben die Köpfe dichter zusammen, die Stimmen sinken, jetzt kann ich sie nicht mehr verstehen.

Den Rückweg zur U-Bahn nehme ich über den „Friedhofspark Pappelallee“. Dieses Stück Land zwischen Lychener Straße und Pappelallee ist in der Friedhofsstadt Berlin etwas ganz Einmaliges. Auf den Gräbern picknicken die Menschen, sonnen sich auf breiten Decken, eine Hochschwangere spielt im kurzen Kleidchen Federball mit ihrer Freundin. Eine lebendige Metapher. Tod und Leben, Vergehen und Entstehen.
„Ich komme gerne hierher“, sagt meine Nachbarin auf der Bank, „rauche meine Zigarette und hab gleich viel weniger Angst“.
Am Ausgang steht: „Schafft hier das Leben gut und schön / Kein Jenseits ist, kein Auferstehn.“

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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