Zwischen den Vergangenheiten

Am Senefelderplatz komme ich aus der Unterwelt des Schnellverkehrs: Immer drunter weg, Gegenwart, Vergangenheit, nur Namen. Am Eingang zur Schwedter Straße ist angesprayt: Freiheit für die politischen Gefangenen aus Widerstand, Antifa und RAF.
Der Laden gegenüber nennt sich Sicherheitsfachgeschäft. Bald danach geht es los mit den leicht bekleideten griechischen Mädchen, die an den Fassaden die Balkone auf dem Kopf tragen als sei es nichts. „…selbst in der Arbeitervierteln Palastfronten, was aber dahinter ist…“ sagte Friedrich Engels, und Broch schrieb: „Armut durch Reichtum überdeckt … Versüßlichung …Verleugnung hinter Dekoration“. Nr. 263, angeschrieben: „Druckerei Gutenberg“, ist ein baldiges weiteres Beispiel dieser verleugnenden Fassadenarchitektur. Die Fresken zeigen halbnackte Antiken, nicht beim Drucken, sondern an Hammer und Amboss: früher eine Metallgießerei. Jetzt Christengemeinschaft und S.T.E.R.N., die Stadtsanierungsgesellschaft, deren Chef eben 75 geworden ist.
Ich bin auch Vorstand einer Gesellschaft, die Derartiges betreibt: nachher in der Oderberger komme ich an einer kleinen Dependance des SPI vorbei: als „Ausnahme und Regel“ haben wir in Kreuzberg-Zeiten mit zeigefingerndem Brecht-Zitat unser Bemühen grundsätzlich genommen. Jetzt weiß ich längst nicht mehr, was hier die Regel und was die Ausnahmen zu sein hätte.

Ich trinke bei Donath einen Milchkaffee und betrachte den Eingang der Templiner Straße: links eine in Fuhrbetrieb und Brennstoffhandel verwandelte Kleintankstelle, dann ein Fachwerkhäuschen, dahinter eine aufragende Brandmauer, auf der sich die verblassenden Werbeankündigungen überlagern: Zigaretten Kaiser Briketts hier zu haben. Angesprayt: „Castor stoppen“, „Und Eins ist Fackt / Gefickt wird Nackt“; „So, so“, sagt dazu der Spraykommentator lakonisch.
Gegenüber die 1. Grundschule Prenzlauer Berg, die den Sprayern ihre Wände offiziell überlassen hat. Das größte Spray-Bild heißt „Märchenland“, Horrorgestalten klassischer Herkunft, Pinocchio kommt über die Zunge des Wals, als ob er Jonas wäre; Märchenland ist verfettet, die Mythologen fressen zu viel.
Im Donath an den Wänden Bilder von Italien. Nebenan baut eine Firma aus Caserta für einen Wessi aus Wiesbaden ein Hotel. Bei French Quarter (zwischen 12 und 15 Uhr alle Speisen 25% billiger) biege ich in die Choriner Straße ein.

Die Stadt hat zwei Vergangenheiten: die Vergangenheit des endenden 19. Jahrhunderts, aus der die Häuser und ihre Fassaden sind, und die DDR-Vergangenheit, in der die Balkone baufällig, abgerissen und zu Fenster versperrt wurden. Von unten steigt die Erneuerung auf: eine farbendicke Bäckerei, ein buntes Elektrogeschäft, auch „Rosenbaum“: ein Restaurant, das feine Küche anbietet. Oftmals, las ich, wirft man den schicken Kneipiers die Fenster ein. „Kulinarische Urbarmachung des Ostens“ steht werbend in einem Fenster. Als ob Prenzlauer Berg eine Kolonie sei, deren Eingeborenen die feine Lebensart beigebracht werden muss.

Ich gucke für heute nicht über die Straßenkreuzung: drüben die alte Schultheiss-Brauerei vom Bahnhofsbaumeister Schwechten, in der nicht mehr gebraut wird: ein Industriedenkmal. Von den Brauereien am Prenzlauer Berg zogen die breiten Bierwagen durch die breiten Straßen zum Güterbahnhof, der oben an der Bernauer Straße jetzt ebenso fort ist, wie die Braustätten. Wie auch das Stadtbad: Wenn man die kleine Stichstraße hineingeht, die zwischen dem Stadtbad und Oderberger Straße Nr. 60 ein Stück in die Tiefe führt, betritt man ein Hinterhof-Museum: so eng war der Lebensraum hinter den Prachtfassaden.
Die Badeanstalt, bezahlt von einem Bürgerverein, der sich um die Volksgesundheit sorgte, ist gebaut vom vielgerühmten Stadtbaurat Hoffmann Anfang des [vorigen] Jahrhunderts, kurz bevor die Arbeiter sich gut gewaschen aufmachten, um dem Kaiser zuliebe ihre französischen und englischen Kollegen umzubringen und sich selbst umbringen zu lassen.
Das Bad hinter der nachgemachten Renaissance-Fassade ist seit dem 1. April geschlossen: „Wir bedanken und für Ihre jahrelange Treue“ ist angeschrieben, Treue zu einer Badeanstalt – das ist besser als Treue zum Vaterland. Durch den oberen Teil der Oderberger Straße pfeift vom Mauerpark her übers Jahn-Stadion ein kalter Wind, er wirbelt Staub auf; ich muss mich ihm entgegenbeugen und auf die Fußspitzen gucken.

Manche sagen: Die Oderberger Straße ist eine Art Kunstmeile. Man sieht ihr noch an, dass sie fast drei Jahrzehnte eine Sackgasse war, in der die Mauer das wirkliche Leben erstickte. Jetzt belebt sie sich langsam.
Der Oderkahn, die Kneipe, die hier seit 1921 Bockwürste anbietet, bis 16 Uhr geschlossen hinter weißem Zäunen und weiß-roter Kette, ist nicht mehr das einzige Lokal hier, ein Stückchen weiter Entwederoder, geöffnet, daneben neustens das Labyrinth, ebenfalls geschlossen, als ich gegen Mittag vorüber komme.
Gegenüber im interessant-farbig renovierten Haus Nr. 50 die schwer lesbare „Kiez-Kantine“, die Kinderwagen parken draußen. „Lübeck: Bullen Schützen Faschos“ heißt es an einer Wand. Ich weiß nicht, ob diese Parole den Fall trifft, auf den sie anspielt. Ich verstehe sie auch nicht ganz.
Das letzte Geschäft der Straße ist tatsächlich ein Modesalon, geöffnet donnerstags von 15 bis 20 Uhr, Hauptgeschäft in Charlottenburg, Giesebrechtstraße; das ist wahrhaftig eine ganz andere Gegend. „Voriges Jahr war der April viel wärmer“, sagt meine Begleiterin.

Wir beginnen zu frieren, während wir durch die Eberswalder Straße eilen. Das ehemaligen Frauensiechenhaus (Nr. 17/18), ein eindrucksvolles Gebäude von 1877, wird restauriert, jetzt St.-Elisabeth-Stift, im Oktober wollen wir fertig sein, steht im Schaukasten: Der Herr ist auferstanden, Halleluja. Dann werden wohl auch Häuser wieder auferstehen.
Zur Station Eberswalder Straße muss man hinaufsteigen, unten nahe Sredzkistraße hat sich U-Bahn in Hochbahn verwandelt. Als sie das zuerst tat, hieß die Straße nach einem preußischen General. Sredzki dagegen war USPD, KPD, Widerstand, sechs Jahre KZ, in Sachsenhausen ermordet. Dieser Teil der Geschichte ist viel weniger sichtbar als die Teile davor und danach. Fast wundere ich mich, dass man den General nicht wieder aktiviert hat.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: CC BY-SA 2.5

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