Busfahrt nach Treptow

Dass dieser Titel nicht klingt wie „Moselfahrt aus Liebeskummer“! Damit hätte ich ja gar nicht am Hut. Die Spree ist nicht die Mosel, der 104er kein Schiff, und Liebeskummer kann ich mir in meinem Alter nicht mehr leisten. Abgesehen von R.G. Binding … mit diesem Deutschen-Reichs-Schriftsteller möchte ich nicht verglichen werden. Reichsstraße. Der Bus 104 beginnt heute am Theodor-Heuss-Platz, ehedem Reichskanzler-Platz, in der Reichsstraße ist ein Budenfest, das dem Bus seine eigentliche Endhaltestelle Brixplatz versperrt. Als ob das Leben aus Fressen und Saufen bestünde; dass wir für unsere Seele auch alltäglich immer nur durch Vermittlung des Körpers sorgen können.

Ich vermisse hier in der Gegend der feinen Leute die Gaukler, Jongleure; hinten hat der SFB, an dessen neuzeitlichem Fernsehzentrum ich nun vorüberfahre und an seinem klassischen halbkreisigen Backstein-Rundfunkhaus, zwar einen hochverboxten Stand, aber Vorleser werden da nicht auftreten, die vielleicht Ringelnatz lesen, der dort hinten gewohnt hat… aber Ringelnatz, ich glaube, das wäre es auch nicht, es müsste… es müsste… welche Literatur, überlege ich mir, während es am misslungenen Messezentrum vorübergeht und an den kunstgewerblichen metallenen Städteeroberer, der vor dem Modernistikum nun schon seit Harry Ristocks Zeiten einen Stein zu schleudern versucht, welche Literatur müsste es denn sein, die die Leute auf der Straße hörten und sagten: Mensch, Mensch…! Jakob van Hoddis vielleicht, der hier gewohnt hat, in der Joachim-Friedrich-Straße, an der mich der Bus vorbeischaukelt durch die Westfälische Straße, ganz dicht unter meinem eigenen Balkon entlang, Jakob van Hoddis, in Friedrichshain geboren, in Halensee gewohnt, in Anstalten gebracht, in Gaskammern vergast, durch Krematorien gejagt: Du zogst durch Nacht in weißem Mondeskahne / Vom Sternenwahn getrunken und bestaubt. An der Cicerostraße vielleicht aussteigen, wo der Bus zu Hause ist im großen BVG-Depot, und unten in der Straße, wo die Nazi-Propagandistin Leni Riefenstahl ihre Geschäftsstelle hatte für den „Reichsparteitagsfilm“, Reichskanzler, Reichsstraße, Reichsparteitag, van Hoddis vorlesen: Weltenende. Der große Sturm ist da. „Andere Gedanken!“ befehle ich mir. Aber der Befehl wird nicht befolgt. Denn jetzt fährt mich der 104er am Fehrbelliner Platz an dem Haus vorüber, in dem Heinrich Himmler der größte Mörder des Jahrhunderts, residierte und seine Gehilfen ihr Mordhandwerk mit derselben deutschen Präzision verrichteten, mit der jetzt ihre Enkel – sagen wir: – in der Ausländerbehörde die Zulässigen von den Unzulässigen trennen.

Der 104er kommt nun nach Schöneberg. Er fährt durch acht Bezirke, durch ganz verschiedene soziale Zonen, ein Stadtdenkmal nach dem anderen. Die FHW, Fachhochschule für Wirtschaft, wo wir – als Edgar Uherek dort Rektor war – über die Hochschulpolitik konspirierten, vorbei am Rathaus Schöneberg, wo wir standen, als Kennedy seine ausgeklügelten Worte sagte, auch als Günter von Drenkmanns Sarg dort auf den Stufen stand und die Kammergerichtsräte sich wie Leidtragende fühlten.
Flughafen Tempelhof, die Hungerharke davor, die Worte aus Gottfried Benns sentimental-heroischem „Berliner Brief“ im Kopf, Luftbrückenzeiten: „aus dem blockierten, stromlosen Berlin… geschrieben in einem schattenreichen Zimmer, in dem von 24 Stunden zwei beleuchtet sind… Danken wir zum Schluss General Clay, dessen Sky-Master diesen Brief hoffentlich zu Ihnen bringt…“

„Und Sie dahinten, wie lange wolln Sie denn mit Ihrer Kurzstrecke noch fahrn!“, der Busfahrer ist heraufgekommen auf das Oberdeck und stellt einen jungen Mann zur Rede, der sich vor zwei jungen Frauen dicke tut. Damit geht es nach Neukölln hinein, der Bus überquert die drei Neuköllner Star-Straßen, belebt, lebhaft, niemand würde hier sagen: Berlin; hier ist Neukölln. Wo Treptow beginnt, das sieht man gleich. Die Mauerwunde ist noch nicht vollkommen vernarbt, Wildenbruch-/ Ecke Heidelberger…
Ernst von Wildenbruch, 1845 bis 1909, illegitimer Hohenzollernspross, ein Berliner Schriftsteller, der Kaiser schätzte ihn mehr als Gerhard Hauptmann, heute ist’s bald egal, auch Hauptmann sinkt ab.
Der freundliche Busfahrer berät eine Frau mit Kinderwagen ausführlich, wie sie am besten dort und dorthin kommen kann, den Kollegen hier auf dem Oberdeck stört die Verzögerung: „Fahr weiter, Mann!“ brummt er, „ich will nach Hause“, und als es endlich weitergeht, schickt er ein verächtliches „Wessi!“ hinterher, Die Endhaltestelle S-Bahnhof Treptower Park liegt in der platanengeschmückten Puschkinallee. Zum S-Bahnhof geht es über eine belebte Autostraßenkreuzung; an einer verwilderten Ecke, etwas aus der Aufmerksamkeit gefallen, zurückgezogen vom nahen Autolärm, den neu-glänzenden Treptowers die Schulter zeigend, ein Denkmal, ein Schild an einer rohen Mauer: „Trifon Andrejeweitsch Lukjanowitsch / Obersergeant der sowjetischen Armee, rettete an dieser Stelle / am 29. April 1945 ein deutsches Kind / vor dem Beschuss durch die SS. / Fünf Tage nach der Heldentat / starb er an seinen schweren Verletzungen. / Ehre und Ruhm seinem Andenken.“ Ein paar Augenblicke lang habe ich den heftigen Wunsch, mir die Gedanken vorzustellen, die den Obersergeanten bewegt haben. Am liebsten ist mir die Vorstellung: der russische Mann war hier, zu dieser Zeit, an dieser Stelle derjenige Mensch, der das getan hat, was nötig ist, damit die Erde ein Ort bleibt, an dem Menschen leben können.

Ich gehe unter der S-Bahn hindurch, auf die andere Seite, wenige Schritte nur, die Stadtstimmung ist im Nu verwandelt. Hier beginnt die Treptower Parklandschaft, am Wasser liegen die Schiffe von „Stern und Kreis“, Eltern und Kinder, Paare, Paare mit befreundeten Paaren, es ist Sonnabendnachmittag, MS Friedrichshain legt gleich ab zur Kaffeefahrt.
Eine gemütliche, das heißt in Berlin immer auch: eine zugleich etwas aufgeregte Freizeitstimmung breitet sich aus, „Weesde, Nicole, wat dett sind? Det sinn Maronien, Esskastanien sinn dett!“
„Ich dachte, dess sinn Kastanjen.“
„Neenee, det sinn Maronjen.“
Pause im „Ambiente“ im S-Bahn-Bogen. „Keine öffentliche Toilette!“ ruft die Wirtin einer Aufgetakelten nach, die nicht mal fünfzig Pfennig geben will.

Die Puschkinallee kreuzbergwärts. Eine Lieblingsstraße. Sie wird immer schöner. Die Stadtvillen an der nördlichen Straßenseite, deren schnelles Wachsen ich beobachte, sind jetzt erwachsen, hinten liegen die Treptowers, das ist bis zur Eichenstraße eine ganze Stadt, allerdings eine Arbeitszeitstadt, nach Feierabend sieht sie geschlossen aus, wie gegenüber die Bewag-Zentrale am Schlesischen Busch.
Park, parken: Die Wörter haben eine auffällige moderne Doppeldeutigkeit. Die Erklärung für die vielen Parkenden am Park sind an der Grenze zu Kreuzberg die von der Industrie verlassenen Industriehallen: „Antik und Trödel“.
Ein gigantischer Trödelmarkt, eine großstädtische Sehenswürdigkeit ersten Ranges, einmalig, geordnet und ganz ungeordnet: Bücherberge, CD- und Schallplatten-Haufen, weite Flächen voller Metallzeug, Türklinken, Wasserhähne, Schweißerhelme – und Kleider, Kleider, Röcke, Jacken. Das Innenleben ganzer Bürgerlichkeiten ist nach außen gestülpt, ein soziologisches Museum ein Querschnitt durch die Privatheit, in der wir leben, wenn die Fernseher und die Computer ausgeschaltet und die CD-Player verstummt sind. Dagegen ist jedes historische Museum eine Lüge.
Als ich an den Reihen der ausgebrauchten, von Gefühls- zu Handelsware mutierten Barbiepuppen vorübergehe, fasst mich ein Schaudern, sie liegen da nebeneinander aufgereiht: Zärtlichkeitsleichen, Killing Fields der Kindheiten, die zu Ende gegangen sind: ach, mögen sie doch nicht in die Hoffnungslosigkeit von Arbeitslosigkeiten übergegangen sein.
Ich krame aus einem Bücherstapel einen Band Wildenbruch, verstaubt, zerlesen, lose Blätter unterm Golddruck-Deckel: „Edles Blut“. Und trage meine Melancholie bis zum Schlesischen Tor, wo ich im Margarita diesen Text geschrieben habe.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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