Ein Mal Ehren – II.

Mit der Puschkinallee beginnen die Platanen. Die Platanen in der Puschkinallee und ihre Cousins und Cousinen ein Stück weiter drinnen im Park gehören zum Schönsten, was es in Berlin zu sehen gibt. Sobald man – vom Rathaus oder von der Sternwarte kommend – die Platanen erblickt, verändert sich das Lebensgefühl. Am unmittelbarsten, wenn man allein ist. An einem Wochentag im Februar ist man hier ziemlich allein. Wenn man sich ein bisschen Zeit für die Platanen lässt, vervielfachen sie die Zeitebenen; wie Träume, die es auch in der gemessenen, offiziellen und in der maßlosen, privaten Zeit gibt.
Die sichtbare Wirklichkeit ist doppeldeutig. Das erste Haus sieht wie ein Försterhaus aus, das Tor-Schild kündigt an: Lohnsteuerhilfe. Dann ein Zaun, der viel zu mächtig und zu eisern ist, um noch ein Zaun zu heißen. Das Haus hinter dem Staatsgitter ist auf dem Gold-Schild ausgegeben als „Auswärtiges Amt“. Es rechnet also mit Fremdlingen, die tatsächlich nicht wissen, dass das nicht das Auswärtige Amt ist. Dieses Ministerium hat seinen Berlin-Sitz dort, wo ZK und Reichsbank saßen, klaustrophobische Institute, von denen wir hier am Treptower Park also einen Ableger erleben. Ich kannte eine nette Konsulin, die hier Kurse veranstaltete für Jung-Diplomaten aus Osteuropa. Erträglich wird das Haus erst hinten, wo Raffgardinen hinter den Scheiben hänger und Keramiktiere auf der Fensterbank stehen, hier wohnen die Hausmeister. Mein Vertrauen in das Haus wäre von Anfang an größer, wenn auf dem Schild zu Nr. 36 bis 41 stünde „Lohmeier und Adamek“ statt „Auswärtiges Amt“.
Vor dem Triumphbogen, durch den ich ins Ehrenmal eintrete, stehen 16 Fahnenmasten, eine blaue Dixi-Toilette und ein besprayter grüner Bauwagen. Die 16 Masten stehen für 16 Sowjetrepubliken; die gibt es nicht mehr, die Toilette und der Bauwagen stehen für die Zukunft, die es hoffentlich gibt. Die Inschrift verheißt „Ruhm“; das ist von allen Wörtern das häufigste in dem Gartenensemble, das hier beginnt und das eigentlich ein Friedhof ist.

Die Anlage wird um so schöner, je weiter man hinein gelangt. Man muss sie ansehen, nicht andenken. Die kleinen Bäumchen rechts und links der Allee, auf der man hinein und durch den anderen Triumphbogen auch gleich wieder hinaus gelangte, sind auf gleiche Höhe geschnitten, dass sie sprießen. In der Mitte der Allee, auf halbrundem Platz, an schöner landschaftlicher Stelle sitzt die granitene Mutter und sieht nicht hin. Es soll wohl eine russische Frau sein. Aber in Wirklichkeit ist es überhaupt keine Frau, sie ist zu groß und zu symbolisch. Sie ist die Mutter von keinem der 5.000 ehemaligen Männer, deren Knochen weiter oben zu Erde werden. Eine wirkliche Frau, die hier trauernd säße, würde ich fragen, warum sie nicht rechtzeitig nein gesagt hat.
Nein zu sagen, um gegen den Faschismus zu kämpfen? Nein sagen zum Krieg. Ich bin befangen. Ich bin Pazifist. Ich bin gegen jeden Krieg. Ich kenne keinen gerechten Krieg. Auch die Soldaten, die am oberen Ende der ansteigenden Prachtstraße neben dem roten Marmor aus der Reichskanzlei sitzen, sind keine wirklichen Soldaten.
Und der rote Marmor – das sind nicht die gesenkten Fahnen der Roten Armee. Es sind Bronzefiguren, Steinsymbole. Nicht zu vergleichen mit denen, die tot sind und deren Namen oben im verschlossenen und nicht einsehbaren Buch im Monument eingetragen sind, um das der kalte Wind pfeift.

Der einzige Name, der öffentlich ist, zweimal 8 mal, ist der Name von Stalin. Der Name gehört hierher. Die Sätze, die er links auf russisch und rechts auf Deutsch sagt, können gelesen und bedacht werden. Sie sind richtig und falsch. Die Zeiten verschieben die Werte. Kein Denkmal ist für immer. Schließlich bedeutet es, was das Material bedeutet, aus dem es gemacht ist.
Die Ruhe des Arrangements ist echt. Viele Friedhöfe sind schön. Auch dieser. Schön ist, dass keinerlei Ruhm zugegen ist, wo Tote sich in Natur verwandeln. Das Monument wusste es von Anfang an: 6 mal „Ruhm“ in Russisch und in Deutsch, das schreibt nur, wer sich unsicher ist. Beschwörungsformeln.
Das Bauwerk mit der schönen Aussicht trägt die berühmte Bronzefigur. Das Schwert und die Hand, die es hält, sind riesig, das zerschlagene Hakenkreuz ist riesig, das Kind ist riesig, das der riesige Mann auf dem riesigen Arm hält und das er nicht ansieht mit seinen riesigen Blicken, die in die Weite gerichtet sind, die wohl auch riesig ist. Es war üblich in gewissen Kreisen, dieses Bildhauerwerk des J.W. Wutschetisch für hohe Sowjetkunst zu halten (oder für ein heiliges Symbol, das ist dasselbe). Es ist nun fast ein halbes Jahrhundert seit seiner Aufstellung vergangen. Wir können es jetzt für schön halten, wie die Gründerfassaden für schön gehalten werden, hinter denen die Berliner hungerten.
Aber Friedhöfe sind keine ästhetischen Veranstaltungen. Friedhöfe fragt man besser nicht nach Bedeutungen. Schließlich gibt es nur eine Bedeutung: Veränderung. Nichts bleibt wie es ist, hier unter dem wächsernen Mond. Nichts. An die Südseite des Parks reicht die Stadt Treptow heran mit vergangener Großbürgerlichkeit.

Der S-Bahnhof Treptower Park ist von der Straßenseite gesperrt. „Eingang von der Hafenseite“, warum sagen sie nicht: von der Parkseite? Um das Wasser abschlagen zu können, gehe ich ins „Ambiente“ unter dem S-Bahnbogen. „Keine öffentliche Toilette“ ist an die Toilette angeschrieben. Ich bestelle einen „Wiener Kaffee“ und eine Bockwurst. Damit bin ich eingetaucht in übersichtliche Alltäglichkeit, nach dieser heftigen Dosis Heldenhaftigkeit.
Nein, das Ehrenmal taugt doch nichts. Es erzeugt falsche Stimmungen, es nimmt aus dem Alltag alltäglicher Menschen ein Stück heraus und stilisiert es in eine Sphäre, in der diese Menschen, die nun schon lange tot sind, in ihrer Jugend gestorben, niemals gelebt haben und niemals gelebt hätten, wenn man sie am Leben gelassen hätte. Das Wesen von Denkmälern ist, dass sie nichts mit den Menschen zu tun haben, an die sie angeblich denken. Im Ambiente wird mir wieder warm. Die Bockwurst kommt nicht. Ich bestelle einen zweiten Kaffee, das ist nicht gut für meinen Blutdruck.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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