Die Müllerstraße auf und ab

Ich komme die Chausseestraße herauf. Auf dem Neuen Französischen Friedhof besuche ich das Grab Theodor Fontanes. „Der sogenannte Wedding beginnt“, hat er geschrieben, nicht wissend, dass er den Platz seiner letzten Ruhe beschrieb, „und an die Stelle der Fülle, des Reichtums, des Unternehmungsgeistes treten die Bilder jener prosaischen Dürftigkeit, wie sie dem märkischen Sande ursprünglich eigen sind.“
Über diese Worte sind nun mehr als 100 Jahre hingegangen, und nun sieht es ganz anders aus. Das Fontane-Zitat passt eher auf den umgekehrten Weg. Man sieht noch, wo der Todesstreifen verlief. Hinter Fontanes Grab kommen 50 Meter Brachland, ehe man den Zaun erreicht zur Liesenstraße Nr. 7.

Kurz bevor man draußen ist, kommt man an einem bemerkenswerten Obelisken vorüber. In französischer Sprache wird da derer gedacht, die pour la patrie, für deutsches Vaterland und preußischen König, gefallen sind, auf französischer Erde kämpfend gegen Franzosen, derer auch auf Französisch gedacht wird, wenn sie auf „richtige“ Weise gestorben sind. Die Hugenotten, die Refugies. Die Sprache jedenfalls macht die Nation nicht. Bestand Deutschland also umgekehrt nicht doch aus zwei Nationen, als der Todesstreifen hier verlief? Der Obelisk muss ein bisschen restauriert werden. Der Französische Friedhof muss seinen richtigen Eingang wieder erhalten von der Weddinger Seite, damit er nicht aussieht wie ein Schrebergarten, den man vergessen hat, sondern wie der Geschichtsgarten, der er ist.
Der benachbarte katholische Friedhof der Domgemeinde ist schon ein Stück weiter, das von der Mauer beiseite gerückte Eingangsportal entsteht wieder, die beiden Engel mit den ragenden Flügeln knien wieder da, wo sie hin gehören.
Allmählich wird man vergessen, dass die Chausseestraße von Mitte und die Chausseestraße von Wedding in getrennten Welten verliefen. Mir steht vor Augen, wie es hier zuging, als die Grenze schon da war, aber die Mauer noch nicht. Erst recht ist mir die Mauer in Erinnerung, die die Friedhöfe zusperrte und die Chausseestraße beiderseits zur Sackgasse machte. Die Wunden verheilen langsam.

Die Müllerstraße hinunter. Links das Erika-Hess-Stadion, ich erinnere mich der Bürgermeisterin, ich kannte sie in Zehlendorfer Zeiten, einen Teil unserer sozialdemokratischen Vergangenheit haben wir gemeinsam verbracht. Gerade ein Eis-Stadion – sie hatte nichts von einer Frau aus Eis.
Rechts die westliche Variante von Plattenbauten. Und das Reich von „Tip-Autozubehör“; „unglaublich!“ sagt Touradj, der mich begleitet; er ist Taxiunternehmer, er weiß, wovon er redet. Das Schering-Hochhaus sieht so aus, als ob es gestützt werden müßte. Links die so endgültig wirkende Glaskuppel von Schering, rechts an der Lindower Straße einstöckige Verkaufsbaracken, die an die Vorläufigkeit von Ost-West-Zeiten erinnern, als hier die Systeme aufeinander stießen und zu schnellem Kauf animierten wie überall, wo Grenzen sind und die Leute auf der einen Seite haben, was die auf der anderen gerne hätten.
Das SPD-Gebäude zur Linken. Früher gab es einen Hof zur Burgsdorfstraße. Den vermisse ich. In der Nacht, als Walter Momper gewählt war und seine rot-grüne Koalition, stand dort ein Zelt, in dem wir uns dicht an dicht versammelten. Mancher glaubte, eine neue Epoche in der Berliner Nachkriegsgeschichte hätte begonnen. Es folgten quälende Kommissions-Sitzungen, manche von uns versuchten, die Welt neu zu erschaffen. Was eine neue Epoche sein sollte, war bald nur noch eine kleine Episode. Die Geschichte schlug andere Wege ein. Jetzt ist das Haus eingerüstet. Die SPD erneuert sich. Oder mindestens ihre Fassade.

Rechts das Arbeitsamt, links in der Straßenfront die katholische St. Josephs-Kirche, 1909 gebaut von einem Pater aus Maria Laach, es soll eine weiträumige Basilika sein, ich habe schon manchen Versuch gemacht hinein zu kommen, aber es ist immer zu. Die Fassade wirkt karolingisch, sie blickt auf die Müllerstraße mit einer vertrauten Fremdheit, das Tor scheint in eine andere Welt zu führen, die ganz dicht neben unserem Alltag liegt, aber doch weit von ihm entfernt.
Am Leopoldplatz führt die Müllerstraße an einer anderen Kirche vorüber; sie steht in den Lehrbüchern der Baukunst. Die evangelische Nazareth-Kirche von Schinkel, Muster eines Kirchbau-Sparprogramms, vier solche Bauten hat Schinkel 1832 bis 1834 für die nördlichen Vorstädte entworfen. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde das elegante Billig-Kirchlein für die Gemeinde zu klein, in den 1890-er Jahren baute Max Spitta weiter hinten die Neue Nazarethkirche, die nun längst zu groß ist. Aber diese Kirchen, und vor allem der Platz, geben der Müllerstraße bis heute eine Spannung, die sie aus der Beliebigkeit aufhebt zu einer selbstbewussten, lebendigen Einkaufsstraße.
Ich gehe die Müllerstraße bis ans Ende, wo sie zur Scharnweberstraße wird und wo der Wedding aufhört. Viele Geschäfte sehen so aus, als ob sie mich gut bedienen könnten. Belle et triste, schön und traurig, die Buchhandlung neben dem Rathaus, auf der anderen Seite Wohlthat, auf dessen Namen sich wohlfeil fast reimt.
Pergamon Gold nennt sich geheimnisvoll ein Juwelier. Es gibt auffällig viele Juweliere in der Müllerstraße. Viele Armbänder, Ketten, Ohrringe werden zu Weihnachten Schenker und Beschenkte finden.

News – bietet uns keine neuen Nachrichten, sondern alte Klamotten. Die Müllerstraße ist also auch ein bisschen ironisch, selbstironisch. Im Fenster von C&A stehen die Männerpuppen, als ob sie alle Mozarts wären. Das Fenster der Friedhofsgärtnerin Gisela Schubert ist eine Ausstellung für sich. Im Hofdurchgang des Paul-Gerhardt-Stifts leuchtet ein vielzackiger Stern. Der Herr ist auferstanden. Nr. 72, das ehemalige Centre francais, ein Jugendhotel jetzt und Sitz des europaberühmten Sozialpädagogischen Instituts (SPI).
Nun die afrikanischen Straßen. Carl Hagenbeck hatte in den Rehbergen einen Zoo aufmachen wollen, zu Beginn des Jahrhunderts, mit afrikanischen Tieren, auch mit afrikanischen Menschen: „Völkerschauen“: Menschen von zu Hause fort holen und sie als Exoten vorzeigen an weiße andere, die sich als die Normalen ansehen konnten, weil sie zu Hause waren. Die Namen der Straßen wecken ungute Erinnerungen an deutsche Kolonialzeiten, die auch Zeiten ausbeutenden Mordes und Totschlags waren. Vielleicht wollen die Straßennamen, dass wir’s nicht vergessen. Ach, es ist schon vergessen, und manche von uns sind längst dabei, viel schlimmere Schuld zu vergessen.

Cafe Nostradamus will uns an den mystischen Wundermann erinnern, der wusste, was kommen würde. „Zum Korken“ in nächster Nähe: das ist handfester und einfacher zu begreifen. Oder „Futtern wie bei Muttern“ – das scheint zu passen.
Aber die Müllerstraße ist eine Straße, in der es alles gibt, multikulturell die Imbissstände; nur ein richtiges Cafehaus fehlt, wo man ordentlich sitzen kann und einen Parkplatz vor der Tür findet.
Auf dem Dach von Karstadt sitzt ein Weihnachtsmann und guckt auf die Schinkel-Kirche, er sieht überhaupt nicht so aus, als ob er sich viel für Baugeschichte interessierte. Vielleicht ist er ein bisschen unglücklich. Weil er da oben sitzen muss und nicht herunter darf auf die wuselnde, lebhafte, glitzernde Müllerstraße, die sich in der vielbelichterten Abenddunkelheit selbst in einen Weihnachtsmarkt verwandelt (den es vor dem Rathaus aber auch noch extra gibt).

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

print

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*