Inselort unterwegs

Auf meiner Köpenick-Karte steht „Altstadt“ mitten im Wasser: Krusenick, Müggelspree bis Frauentrog – das wäre Köpenicks Altstadt?
Die Kartenschrift erzeugt eine phantastische Vorstellung: Die Rathaus- und die Schlossinsel legen sich von der Leine, an die die Müggelheimer und Lindenstraße sie legten, schippern die Dahme hinunter, vielleicht bis Grünau, legten an, Wendenschloss gegenüber, oder ziehen umgekehrt die Spree seewärts, um das Rathaus in der Rummelsburger See und das Schloss an der Berliner Besichtigungsküste zwischen dem Märkischen und dem Rolandsufer festzumachen: das Köpenicker Schloss zum Märkischen Museum, zu dem es verwaltungstechnisch ohnehin schon gehört.
Diesen Wanderungsgedanken könnte ich auf die Spitze treiben: Köpenick Altstadt austauschen gegen die Pfaueninsel oder einpassen in die Bucht des Großen Wannsees, damit aus Zehlendorf endlich auch was Ordentlich-Historisches wird.
Es lag nicht an Köpenick, dass gerade dort der Hauptmann auftrat. Es hätte überall sein können: Das Lehrstück mit Köpenick im Namen ist nicht zu Ende. Dieses Stück handelt nicht – wie man oft hört – von der Macht der Uniform, so dass man heute einen Karneval daraus machen könnte, sondern von der Ängstlichkeit der Bürokratie; der Schuster enthüllte den autoritären Charakter. Unterwerfung ist eine Disposition der Gehorchenden, nicht der Befehlenden.

Das Denkmal an der Rathaustreppe, an dem ich eben auf meinem Altstadt-Spaziergang vorübergehe, ist ein untauglicher Versuch, etwas als vergangen darzustellen, was gar nicht vergangen ist.
Denkmal ist: Zurückhaltung des Gedenkens vom Denken, Bewahrung des Gewesenen vor der Analogie. Der bronzene Hauptmann vor dem Rathaus macht zur Episode, was Tendenz, zur Arabeske, was Charakterzug ist. Da muss Köpenick aufpassen. Nicht anlegen, unterwegs bleiben!
„Köpenick – das ist Altstadt und Kiez“, sagte ein Freund aus Lübeck, der viele Altstadthäuser restauriert hat.
In Lübeck habe ich Jugendjahre verbracht, in einer Zeit, wo in der alten BRD niemand ans Restaurieren und Erhalten, sondern alle ans Abreißen und Erneuern dachten. Vier Fünftel aller Lübecker wohnen nicht der Altstadt mit ihren berühmten sieben Kirchtürmen, dem berühmten Holstentor und den Hunderten von Altstadthäusern.
Köpenick hat nur halb so viele Einwohner wie Lübeck, und seine Altstadt ist viel kleiner als die Altstadt Lübecks, das im halbhohen Mittelalter fast eine Weltstadt war. Aber es hätte vielleicht von Lübeck zu lernen, nicht wie die immer tiefer ins Touristische versinkende Hansestadt ein Denkmal seiner selbst zu werden.

„Die Altstadt für die Autos sperren!“ sagte vorige Woche die Freundin, mit der ich spazierte. Gottseidank: das geht nicht. Die Altstadtstraßen sind zwar eng, die Autos drücken den Spaziergänger an die Hauswände, auf dem Schlossplatz ist es schwer, über die Straßenbahnschienen einen sicheren Fußweg zu finden. Wir waren fast erleichtert, als wir vorbei an der freundlichen Kietzer Apotheke schließlich drüben im Kietz waren, im Niedrig-Wendischen: die meisten Autoren versäumen nicht, die slawischen Wörter zu zitieren, auf die sie den Namen der Stadt selbst und den des Kietzes zurückführen: Kietz – der Wohnort der kleinen, ungebildeten Slawen, die den großen, gebildeten Germanen im Schlosse dienen; dieses Oben und Unten, Herrschen und Beherrschtwerden, da also in den Straßennamen gegenwärtig wäre, das brauchen wir nicht zu beleben.
Wir bleiben bei der modernen, gemütlichen Bedeutung, die die anti-großstädtische Bewegung der 60er Jahre, die jedoch nur in der Großstadt gedeihen konnte, den Begriff gegeben hat.
Auf der Karte verhalten sich Kietz und Gartenstraße so zueinander, als wollten sie den Rumpf eines Schiffes abbilden. „Denkmal“ steht groß vor einem Bürgerhaus, das restauriert wird. Wir haben an anderer Stelle über die verdienstlichen Bemühungen der KöWoGe und ihrer tüchtigen denkmalpflegerischen Haike Kaufmann berichtet. Mit ihr ließe sich gewiss über Lübeck reden und über die soziologischen Voraussetzungen der Denkmalpflege. Und über die zeitgeistlichen.
Denkmalpflege ist gut. Aber Denkmalpflege ist kein Ersatz für Geschichte. Und Geschichte ist kein Ersatz fürs Erinnern.

Wir gehen über Freiheit und Futranplatz zurück. Die Köpenicker Freiheit könnte auch Köpenicker Toleranz heißen – ein Name, den man in Berlin-Mitte vergeblich versucht hat, einer Straße zu geben, für die er gepasst hätte.
Freiheit soll Freiheit bleiben: Der Name erinnert an eine Zeit, als der Staat, zu dem Köpenick gehörte, wusste, dass er auf Ausländer angewiesen war, wenn er florieren wollte: Freiheit für die Andersgläubigen (damals für die aus Frankreich), das bleibt gültig. Als staatliche Freiheit in Deutschland entstand, war zuvor ein Weltkrieg nötig, dann bürgerkriegsartige Tötungsaktionen, in einer von ihnen hat Alexander Futran (USPD) 1920 sein Leben gelassen: „erschossen von Regierungstruppen“ steht im Buch.
Welche Regierung? Wer? Der rechtmäßige Militärminister hieß Noske, Sozialdemokrat sein 1873, ihn kostete der Kapp-Putsch das Amt, Futran, dem Elektroingenieur aus Köpenick, das Leben. Denkt man an Futran? Hat er – unterwegs vom Erinnern ins Vergessen – Lehren, die man den Kindern sagt?
In dem ausführlichen Katalog Köpenicker Denkmäler, der Granit, Sandsteinblock und Waschbeton zentimetergenau vermisst, aber das Todesdatum falsch angibt, heißt es: „In einer Ecke der von Hecken umfriedeten Grünfläche hat das Denkmal einen angemessenen Platz“: in einer Ecke.
Manches Denkmal ist fort, auch wenn es noch da ist. Die Geschichte ist immer unterwegs. Unterwegs ins Vergessen.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Orderinchaos, CC BY-SA 4.0

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