002 – Ein heißer Tag

Der 1. Mai war ein warmer Tag. Am frühen Nachmittag gingen wir zum Lausitzer Platz, wo gerade das Straßenfest begonnen hatte. Schon seit ein paar Jahren wurde an diesem Tag im Kiez gefeiert. Auf einer Bühne spielten Bands, Artisten traten auf, einige Läden aus der Gegend bauten Stände auf und verkauften Bücher, Schmuck und Klamotten. Politische Initiativen verteilten ihr Infomaterial und viele einzelne Leute oder Besetzerkollektive boten Kaffee, Saft und selbst gebackenen Kuchen an. Dazwischen gab es Spiele für Kinder, überall hörte man Musik, es war eine fröhliche Stimmung. Diesmal aber, 1987, war etwas anders. Es gab Diskussionen, überall standen Gruppen von Leuten, die laut miteinander redeten. Ich erfuhr, dass in der Nacht zuvor der Mehringhof von der Polizei durchsucht worden war. Dieses Zentrum der radikalen Linken in Berlin war ein Symbol, die Razzia bedeutete ein Schlag gegen die Szene. Opfer der Durchsuchung war das VoBo-Büro, wo die Aktionen gegen die von der Bundesregierung geplante Volkszählung koordiniert wurden. Es war klar, dass es dagegen noch Protest geben würde, aber ich wollte jetzt erstmal nur feiern.
Tobi aber war ziemlich sauer. Und beunruhigt. „Meinste, dass es heute noch knallt? Das kann man doch nicht einfach so hinnehmen.“
„Klar, da kommt heute noch was, aber jetzt will ich erstmal was zum Futtern und ’n bisschen rumkucken.“
„Tach Mädels, wie geht’s?“ Marko war ein richtiger Autonomer, immer zu einer Provo bereit, die Hasskappe in der Tasche.
„Habt ihr Lust auf ein bisschen Action? Wir treffen uns gleich am Görli, vielleicht finden wir was zum Aufräumen.“, grinste er.
Aufräumen – das bedeutete das genaue Gegenteil, Krawall, mit oder ohne Anlass. Hauptsache es knallt. Ich bin jemand, der darauf auch manchmal Lust hat, in den vergangenen Jahren habe ich an fast allen Straßenschlachten teilgenommen. Diesmal aber wollte ich nicht so recht, jedenfalls nicht jetzt schon, am späten Nachmittag.
Noch während wir neben der Kirche am Lausitzer Platz standen, hörten wir Geschrei am Görlitzer Bahnhof. Von uns aus konnten wir aber nichts sehen, außer einem einzelnen Baulicht. Tobi nahm mich an die Hand und so wäre ich mit ihm überall hingegangen. Er wollte aber auch erstmal nur auf dem Fest bleiben.
Auch die Kirchengemeinde hatte einen Stand aufgebaut und verkaufte dort Kekse und Saft. Nicht teuer, aber trotzdem zu viel für mich. In dieser Situation gibt es nur zwei Möglichkeiten, nett oder böse sein. Also entweder diskutieren oder einfach zugreifen und abhauen. Beides macht auf unterschiedliche Art Spaß, aber weil Christen ja gerne reden, versuchte ich sie meinerseits zuzutexten. Von wegen, dass Jesus ja auch das Brot gebrochen habe und nicht extra Geld dafür verlangte.
„Gebt dem armen Jungen doch was zum Essen, er wird sonst vor Hunger noch bewusstlos, direkt vor eurem Stand!“ Tobi gab sich wirklich Mühe.
„Dafür würde er euch bestimmt auch die Füße waschen.“
Ich dachte, ich höre nicht richtig.
„Bist du bekloppt? Wieso denn Füße waschen?“
„Du solltest öfter mal in der Bibel lesen. Da steht das drin!“
Natürlich hatte auch Tobi kein bisschen Ahnung vom Neuen Testament, wahrscheinlich hatte der die Story nur beim Kommunionsunterricht aufgeschnappt.  Aber ob man damit Christen beeindrucken kann?
„Du siehst eigentlich nicht so aus, als ob du nach der Bibel leben würdest“, entgegnete die Hippiefrau schnippisch, aber da war sie bei uns an der richtigen Adresse!
„Wie bitte? Schon als Kind habe ich täglich den Herrn angerufen…“
„…und um Vergebung gefleht für meine Sünden!“
„Genau. Und wie oft habe ich meinen Mitmenschen in schweren Stunden beigestanden!“
„Stimmt. Er hat Trost gespendet und sein letztes Hemd hat er gegeben!“
„Alles im Namen der Barmherzigkeit und des Glaubens.“
„Amen!“
Tobi und ich ergänzten uns hervorragend und wir waren erfolgreich: „Na gut, ihr habt mich überzeugt…“
Wir beide grinsten uns an.
„… dass ihr gute Schauspieler seid. Das soll belohnt werden.“
Sie goss jedem von uns einen Becher Saft ein und reichte uns zwei Stück Kuchen.
In diesem Moment rannten uns mehrere Kinder um, die Saftbecher flogen auf den Verkaufsstand, wir selber konnten uns gerade noch festhalten. Eben noch überall Musik und Lachen, auf einmal nur noch Geschrei. Innerhalb einer Sekunde war die Stimmung gekippt, die Panik der Kinder griff auch auf die Erwachsenen über. Die Wege zwischen den kleinen Ständen waren viel zu eng für die Masse an Menschen, die plötzlich dort durch rannten. Alles was im Weg stand, wurde zur Seite gedrückt, die vielen Tapeziertische mit Spielzeug und Selbstgebackenem zerbrachen, durch die berstenden Saftflaschen wurde es sofort sehr rutschig. In ihrer Panik fielen die Leute hin, andere rannten darüber hinweg.
Im Gegensatz zu den meisten anderen wusste ich, dass unkontrolliertes Wegrennen meist keinen Sinn hat. Man nimmt seine Umgebung nicht mehr wahr, läuft vielleicht noch in die falsche Richtung. Bei den vielen Demonstrationen habe ich gelernt, ruhig zu bleiben, die Situation zu überblicken und erst dann zu reagieren. Nun aber sah ich die Kette der weißen Polizeihelme auf uns zu rennen, ihre Knüppel schlugen in alle Richtungen. Während die ersten nur noch ein paar Meter entfernt waren, blieb der größte Teil von ihnen stehen. Dort prügelten sie auf mehrere Leute ein, die am Boden lagen und sich, so gut es ging, mit ihren Armen vor den Schlägen schützten. Sie schrien um Hilfe. Wir standen direkt neben einem Gebüsch, und anstatt mit mir abzuhauen, bückte sich Tobi, holte sich einen Stein aus den Büschen und warf ihn aus der Drehung dem vordersten Bullen direkt an den Helm. Sofort rasten wir los, den anderen Flüchtenden hinterher. Nach ein paar Metern kamen wir an einem Kinderwagen vorbei, offenbar war die Mutter mit ihrem Baby schon weggerannt. Im Laufen zog ich den Wagen hinter uns her und warf ihn um. Wie erhofft stolperte der Prügelbulle, allerdings ohne richtig hinzufallen. Ein anderer sprang darüber hinweg und verfolgte uns weiter. Anscheinend wurde er aber zurückgepfiffen. Er drehte um und dann liefen sie zu ihrer Einheit zurück.
Damit war es aber noch nicht vorbei. Von hinten wurden nun Tränengasgranaten geschossen, und zwar großflächig auf den gesamten Platz. Während sich die Schläger zurückzogen, knallten von dahinter die Gewehre, die innerhalb einer Minute mindestens 20 Gaskartuschen abfeuerten. Der gesamte Lausitzer Platz, der kleine Park, der Spielplatz und die Kirche verschwanden in den Tränengasschwaden. Während des Angriffs waren viele Kinder in die Büsche geflüchtet, schreiend kamen sie nun raus und rieben sich die brennenden Augen. Eine Frau kam mit einer Seltersflasche angerannt und spülte mehreren Mädchen die Augen aus, alle nicht älter als neun oder zehn Jahre.
Manche hatten den Fehler begangen hatte, sich in Hauseingänge zu flüchten. Das hat die Polizei offenbar beobachtet. Ein Trupp stieß vor, riss die Türen auf und schoss ebenfalls Gas in die Hausflure. Natürlich strömt es dort auch in die Wohnungen, aber das war ihnen wohl egal. Für sie waren die Kreuzberger eh alles potenzielle Terroristen, da ist es nicht schade drum, wenn deren Wohnungen mit Tränengas verseucht wurden.
Auch Tobi und ich hatten die volle Ladung abbekommen und so brannten uns die Augen wie verrückt. Man musste sie möglichst zu lassen, was beim Wegrennen aber nachvollziehbare Probleme macht. Ich hatte Kontaktlinsen, die die Augen einige Minuten vor dem Gas schützen. So konnte ich uns beide in ein türkisches Café retten, in dem wir uns erstmal die Augen ausspülen konnten.
„Das mit dem Stein war nicht gerade die Idee des Jahrhunderts“, sagte ich Tobi.
„Wieso? Kloppe hätten wir doch sowieso bekommen. Außerdem hatte ich zum Nachdenken keine Zeit, wie du vielleicht bemerkt hast.“
Zwischen uns war plötzlich eine aggressive Stimmung.
„Kein Grund gleich auszuflippen, man! Was sollte ich denn machen? Stehen bleiben und mich zusammenschlagen lassen?“
Er hatte ja recht, wahrscheinlich hätte ich selber auch geworfen, wenn ich gerade ’nen Stein oder eine Flasche in der Hand gehabt hätte.
„Haste gehört, wie das gescheppert hat?“ Wir lachten beide los.
„Kein Wunder, Hohlköpfe sind ein prima Resonanzkörper. Das ist wie bei ’ner Glocke.“
„Gong. Gong“. Ich konnte mich plötzlich vor Lachen kaum noch halten.
„Schade, dass er sich nicht richtig auf’s Maul gelegt hat.“
„Und wie geht’s jetzt weiter?“, fragte Tobi.
„Na, was glaubst du denn? Nach der Aktion knallt es doch wie noch nie.“
Ich sollte recht behalten. Innenrhalb einer Stunde entwickelte sich eine Straßenschlacht, wie es sie in Berlin wohl seit 1945 nicht mehr gegeben hat. Hunderte von Menschen griffen die Polizei an, mit Steinen und Knüppeln gingen sie auf sie los.
Wir trieben sie in ihre Mannschaftswagen, nach der Zerschlagung des Festes war die Stimmung unter den Leuten voller Hass. Immer weiter jagten wir die Bullen vor uns her. Manche von denen rannten den bereits flüchtenden Mannschaftswagen hinterher, schafften es gerade noch reinzuspringen. Dann flogen die ersten Mollies an die Wannen, zwei, drei Meter hoch schlugen die Flammen. Zwar wurden jetzt noch Wasserwerfer herangekarrt, aber es nutzte nichts mehr. Was nun folgte war Anarchie pur. Vom Lauseplatz bis zum Kottbusser Tor und dem Moritzplatz, überall wurden nun Barrikaden gebaut, eine Strecke von etwa einem Kilometer. Autos, die am Straßenrand geparkt waren, wurden quergestellt. Wir zogen Bauwagen auf die Straßen, warfen sie um und zündeten sie an. Aus allen Hinterhöfen und Baustellen wurde nun Material für den Barrikadenbau herangeschleppt. Mülltonnen, Holzbalken, Zementmischer, Gitter, alte Möbel, auseinander gerissene Baugerüste, Reklametafeln. Auf jeder Kreuzung bauten die Leute meterhohe Barrieren. Und das waren längst nicht nur wir Hausbesetzer, sondern viele andere Kreuzberger, die von der Polizei die Schnauze voll hatten. Viele Kinder und Jugendliche waren dabei, Studenten, Türken und Deutsche, Junge und Alte, Arme, Arbeiter, Angestellte, Alle. Es war ein wirklicher Volksaufstand. Während sich die Polizei immer weiter aus dem Kiez zurückzog, übernahmen wir die Kontrolle.
„An dieses Straßenfest werden wir noch lange denken!“ Tobi war begeistert, überschwänglich, und während rings um uns weiter Barrikaden gebaut wurden, tanzte er auf der Straße. Nach dem Schreck von vorhin waren wir jetzt total ausgelassen. Plötzlich waren wir stark und die Bullen die Hasen.
Das Zentrum des Riots war die Oranienstraße. Am Kotti tobten noch Kämpfe, während der Kiez selber schon „befreit“ war. Wie auch sonst meistens hatten Tobi und ich unsere Tücher um den Hals, das war Mode in der Szene, aber auch ganz praktisch. Notfalls konnte man es sich einfach vor’s Gesicht ziehen, um nicht so schnell erkannt zu werden. Auf diese Weise zogen wir unter dem Hochhaus durch, das die Adalbertstraße überspannt, zum Kottbusser Tor. Der Kreisverkehr mit dem Hochbahnhof in zehn Metern Höhe, war voller Menschen. Die wenigsten von denen waren vermummt, wahrscheinlich war auch kaum jemand vorher schon mal an einer solchen Schlacht beteiligt gewesen.
Der gesamte Platz war eingenebelt vom Qualm der brennenden Barrikaden, die in Richtung Wassertorplatz errichtet wurden. Es war ein merkwürdiges Bild: Während Hunderte von Menschen Material für die Barriere anschleppten, die immer höher wuchs, sah man von dahinter nur noch die Spritze eines Wasserwerfers. Er gab sein bestes, aber das Feuer konnte er nicht mehr löschen.
Von unserer Seite flogen Steine, der halbe Gehweg war bereits auf dem Luftweg in Richtung Polizei befördert worden. Die revanchierte sich mit Tränengasgranaten, die im Dutzend auf uns abgeschossen wurden.
Mitten in der allgemeinen euphorischen Stimmung wurde Tobi plötzlich ganz still.
„Was ist los, hast du Angst?“
„Na ja, meinst du nicht, dass die gleich richtig zurückschlagen?“
Bevor ich antworten konnte, gab es ein paar Meter neben uns ein großes Geschrei. Drei Zivilbullen hatten sich jemanden gegriffen und versuchten nun, ihn auf die andere Seite zu bringen. Das konnte nicht gut gehen, denn der Weg war längst versperrt. Die Zivis waren so sehr mit ihrer Verhaftung beschäftigt, dass sie die Falle gar nicht bemerkt hatten, in der sie längst saßen. Von allen Seiten schlugen und traten Leute auf die drei Polizisten ein, die sich jetzt mit Tonfas zu verteidigen suchten.
„Warum lassen die Idioten den Typen nicht laufen? Sie haben doch gar keine Chance!“
Ein paar Leute versuchten, den Festgenommenen zu befreien, sie zerrten an ihm, während andere auf die Bullen einschlugen. Plötzlich zogen zwei von ihnen ihre Pistolen und zielten auf die Angreifer. In diesem Moment wurde der dritte von einem Stein am Kopf getroffen und fiel blutend zu Boden. Nun konnte sich der verhaftete Junge befreien und rannte sofort weg. Zu dritt bahnten sich die Zivis einen Weg durch die Meute, immer die Waffen im Anschlag, die Todesangst war ihnen deutlich anzusehen. Einem wurde noch die Jacke vom Körper gerissen, dann waren sie verschwunden.
„Wollt ihr hier nur rum stehen und glotzen, oder was?“ Der Typ, der uns angesprochen hat, hielt eine Holzkiste in der Hand, in der ein Dutzend Flaschen standen, alle mit einem Stück Stoff als Pfropfen. „Feuer habt ihr ja hoffentlich selber.“
Er reichte mir eine Flasche, aber ich nahm sie nicht an. „Was soll ich damit? Ich will die Bullen vertreiben, nicht umbringen.“
Der Typ lachte arrogant und fragte Tobi: „Bist du auch so ein Weichei? Dann geht doch nach Hause zu Mami.“
Tobi fühlte sich in seinem Stolz verletzt und griff nach der Brandflasche.
„Du weißt aber schon, dass man den nach dem Anzünden wegwerfen muss, ja?“ Der Typ war ein Arschloch, das war nicht zu übersehen, Außerdem ging mir der Gedanke durch den Kopf, dass er auch ein Provokateur sein könnte, der erst Leute zu Aktionen animiert, um sie später verhaften zu lassen. Ohne groß nachzudenken, nahm ich Tobi den Molly aus der Hand, zog den Stoff heraus und reichte dem Typ die Flasche. Dabei war ich wohl etwas zu schnell, so dass ein großer Schluck Sprit heraus spritzte – genau auf die Jacke des Typen.
„Pass doch auf, du Idiot!“, brüllte er, „das ist Benzin. Willst du mich abfackeln?“
Er wurde total jähzornig und hätte er nicht noch die Kiste mit den Mollys in der Hand gehabt, wäre er vielleicht auch auf mich losgegangen.
„Man, reg dich nicht so auf, Alter!“ Plötzlich war auch Tobi sauer. Er schrie den Typen an, dass er sich verpissen solle. In der Zwischenzeit waren die Leute um uns herum aufmerksam geworden. Einige nahmen dem Typen Flaschen aus der Kiste, um sie selber zu benutzen. Mir aber blieb er suspekt und so war ich froh, als er endlich weiterzog.
Mittlerweile wurde es langsam dunkel und erfahrungsgemäß werden Schlachten mit der Polizei dadurch noch angeheizt. So war es auch an diesem Abend. Jenseits der Barrikaden am Kottbusser Tor zogen sich die Wasserwerfer und Wannen zurück. Plötzlich war da kein Blaulicht mehr und kein Tränengas. Es war, als hätten wir gewonnen und die feindlichen Truppen waren geflüchtet. Ganz falsch war die Einschätzung nicht, wie wir später aus einem Mitschnitt des Polizeifunks erfahren haben. Die Wucht des Widerstands hatte die Polizei einfach überrascht, zudem gab es unter ihnen  auch viele Verletzte.

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5 Kommentare

  1. Aro, wenn du Namen änderst, dann achte darauf, dass damit nicht auch andere Satzteile ersetzt werden…

    *winkmitzaunpfahl*

    Text habe ich noch nicht durch, dachte nur, das könnte eilig sein :)

  2. So, jetzte!

    Ich verfolge natürlich auch mit Spannung, wie es weitergeht und will mit meiner Anerkennung für den Text nicht hinterm Berg halten.

    Weiter so!

  3. Danke für den Hinweis. Auf was man nicht alles achten muss…
    Dank auch an Phips für die korrigierte Fassung per E-Mail!

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