Von Legien zu Faust

Brücke Waldemarstraße vor dem Engelbecken

Grenz­gänge III

Auf der Waldemar-Brücke war ich stehen geblieben. Das ist die einzige Brücke, die übrig ist vom Luisenstädtischen Kanal, gegraben 1848 ff in einer Arbeitsbeschaffungs-Maßnahme, in einer anderen in den 20er Jahren wieder zugeschüttet, ist jetzt Zeit, ihn mit ABM wieder zu schaufeln?
Hinterlassen hat er die schöne Straßenanlage, die auf die Michaelkirche zuläuft und den Straßenbogen von ihr fort an der Thomaskirche vorbei zur Schillingbrücke, er verband die große katholische Kirche mit der größten evangelischen, aber als die Kirchen fertig waren, hörten die, die hier wohnten, schon auf, ihr Heil in Gebeten zu suchen.

Von der Waldemarbrücke sehe ich Legien, jedenfalls den Kopf des Gewerkschafters, der an zwei geschichtlichen Wendepunkten die Lage nur unklar erkannt hatte, kopflos; dass man auf der kleinen Säule von ihm nur den Kopf sieht, ist also vielleicht Ironie, melancholisch blickt der Körperlose zur kleinen Markthalle hinüber. Das Denkmal hätte zu Leuschner, dem hingerichteten Widerständler, besser gepasst. Vergessen sind die Arbeiterführer beide. Straßennamen helfen nicht, die Zeiten aufzuhalten; Irrtum und Heroismus sind eins in der Gemeinsamkeit des Vergessens.

Der Bethaniendamm führt Seit‘ an Seit‘ mit dem Engeldamm an zwei erinnerungsschweren Gebäuden vorbei: Das erste Gewerkschaftshaus Engeldamm 62-64, seit 1903 Sitz der Generalkommission der deutschen Gewerkschaften, und ein kleines Stück westlicher, Engeldamm 70, das Haus des Transportarbeiter-Verbandes, fertig 1930, als schon nicht mehr viel freie Zeit war, erbaut von Max und Bruno Taut: ein Hauptzeugnis der architektonischen Moderne.

Hier sieht man, was Gewerkschaften einmal waren, welche Traditionen sie trugen. Hinter der Adalbertstraße, im Rücken des ehemaligen Diakonissenhauses, in dem Fontane apothekerte, ist der Bethaniendamm zur Zeit keine öffentliche Straße. Die Rollheimer packen aber ihre Sachen schon zusammen, räumen ab, sie werden vertrieben von hier, wohin, wissen sie nicht.
Gegenüber auf der Brandmauer, die aus der Köpenicker Straße herüberragt, steht: „Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten“.
Die, die unten leben, haben sich aber bisher jedes Mal gegen ihresgleichen aufhetzen lassen, und auf Befehl von oben haben sie sich gegenseitig umgebracht. Ist es damit zu Ende? Soll ich das glauben, hier, wo Jahrzenhnte lang Leute von unten auf beiden Seiten der Grenze entlang gegangen sind und sich voreinander bewacht haben?

Die Schillingbrücke heißt nach dem Chef des Aktienvereins, der die Brücke gebaut hat. Von der Brückenmitte betrachte ich die Bezirksgrenze dort, wo sie auf zum Wasser abfallenden Industrieplätzen unzugänglich ist. Blesshühner, wilde Birken. Hinter Kapella-Fahnen eine weitere Wagenburg; im Gegensatz zu ihrer Kollegin am Bethaniendamm hat sie fast etwas Bürgerliches, gemeinsamer Briefkasten, große Pfeile: „Hier Post für 10243 Berlin-Schillingbrücke“; ein Hund macht sich auf den Weg, ich bilde mir ein: zum Bethaniendamm, wo er eine Liebste hat, an der Straßenkante wartet er, blickt nach links, nach rechts und läuft erst hinüber, als grün ist.

Ich gehe durch die Köpenicker Straße, hier der grenznächste Weg, die Straße der Treibels: „Frau Jenny Treibel oder: Wo sich Herz zu Herzen findt“. Von Theodor Fontane, Roman, 105 Jahren alt, das selbe Thema wie auf der Fassade von vorhin, an deren Vorderseite ich nun vorübergehe:
Mit dem Herz zu Herzen gibt es allen Schlagerliedern zum Trotz Schwierigkeiten: „Ich höre so gern von glücklichen Ehen, namentlich in der Obersphäre der Gesellschaft“, sagt Jenny Treibel, „eine gefährliche Person“ (nennt sie Professor Schmidt, ihr Verlobter aus ärmeren Tagen).
Nr. 41 in einem Resthaus aus der Treibel-Ära nebeneinander „Ihr Friseur-Team“, „French Bistro“ und „Bestattungen Tag und Nacht“.

Durch die Michaelkirchstraße, auf die Brücke zu, komme ich der Grenze wieder näher. Die Bewag modernisiert das Heizkraftwerk Mitte hinter einer Mauer gelber Bau-Container von Hochtief. Den Namen dieser Baufima empfinde ich – daran sieht man, dass ich kein Auftraggeber bin – als metaphysisch. Das Hohe und das Tiefe sind im Grunde (oder in der Höhe?) ähnlich. „Untiefe“ ist auch ein solches Wort, das offen lässt, ob etwas flach ist oder tief. Wie die Erinnerungen, die über uns herfallen oder aus uns aufsteigen. In dem postmodernen Haus Nr. 13 bietet Artur Caesar Berendt Läden an; ein früherer Artur Cäsar Berendt war Handelsrichter in der Kammer für Handelssachen, deren Vorsitzender ich in einem anderen Leben war, ich nannte ihn den „Oberhandelsrichter“, ich könnte Geschichten erzählen über den Immobilienmakler, er ist tot, ich bin auch nicht mehr, der ich war, die Namen sind sich noch ähnlich. Neben der Mitropa der „Kiez-Treff“, die kleine wilde Birke, die aus dem oberen Stockwerk wächst, ist noch da, ich habe sie hier schon beschrieben, gelegentlich sehe ich nach ihr, bald wird sie fort sein und nur in meiner Erinnerung (und meinen Texten) eine Zeitlang weiterleben. Der drei-schiffige Bahn-Neubau an der Holzmarktstraße interpretiert den architektonischen Fachbegriff „Schiff“ neu: Die Eisenbahn-Kapitäne in ihren Haus-Schiffen – ist das Diversifikation oder Misstrauen gegen die Schiene, die sich womöglich rapide in Schwebehöhe entfernt? Die Symbolik des Bauwerks ist so dick wie es Überseedampfer wären auf der Spree. Auf der anderen Seite der Holzmarktstraße gibt es ganz andere Stadtsstimmung.

Die Grenze, die ich erkunde, führt hinter den Häuserblöcken der Lichtenberger Straße entlang, durch einen weiten Innenhof. Er ist das Gegenteil der Innenhöfe des steinernen Berlin. Inmitten liegen Schulen; „Faschos müssen draußen bleiben“ ist an die graue Schulwand gesprayt, die Kinder sehen freundlich aus, die Wände der Schulgebäude nicht, die Wohnungsbau-Gesellschaft Mitte scheint für das Aus- und Ansehen dieses Quartiers mehr Verantwortlichkeit zu empfinden als die Stadt Berlin; die WBM hat das Haus, auf das ich nun zugehe, in verschiedenen Grün- und Gelbtönen verfreundlicht und eine Fassadenverzierung angebracht, die wie der eckige Kopf eines gehörnten Stieres aussieht.

Am Strausberger Platz hat sie die bescheidenen Metall-Balkone blau und weiter unten grün angestrichen. Als man diese Straße Stalinallee nannte und ihr „Zuckerbäckerstil“ vorwarf, sagte mein Vater: „Seit wann ist ein Zuckerbäcker was Hässliches?“
Das Eingangshaus zum Strausberger Platz zitiert: „Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, auf freiem Grund mit freiem Volke stehn“: der Mann, der das sagt, ist blind und liegt im Sterben, er wird nur noch 34 Wörter sagen, das erste dieser letzten Wörter hieß: „Ein Sumpf zieht am Gebirge hin, verpestet alles…“
An der Schillingstraße verschwinde ich in der unteren Welt.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Fridolin freudenfett, CC BY-SA 4.0

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1 Kommentar

  1. Ein sehr schöner Text, aber dieses Zitat:

    „Die, die unten leben, haben sich aber bisher jedes Mal gegen ihresgleichen aufhetzen lassen, und auf Befehl von oben haben sie sich gegenseitig umgebracht. Ist es damit zu Ende? Soll ich das glauben, hier, wo Jahrzenhnte lang Leute von unten auf beiden Seiten der Grenze entlang gegangen sind und sich voreinander bewacht haben?“

    bezeugt, insinuiert mindestens, Äquidistanz gegenüber Nazis, Kommunisten und bürgerlicher Demokratie. Auch wenn man Letzere ablehnen sollte, oder, neudeutsch, ‚reformieren‘, ‚humanisieren‘, ‚überwinden‘ möchte, was meist dasselbe meint, ist Äquidistanz illegitim.

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