Auf Biegen und Brechen

Stabilität ist ein wichtiger Qualitätsaspekt. Balken, die ihrer Belastung nicht gewachsen sind, biegen sich oder brechen gar. Im besten Falle bekommt das Bauwerk dadurch eine andere Form. Man redet sich dann ein, dass es romantisch ist, wenn alles wegrollt, Tische wackeln und die Fenster verschieden hoch sind.

Auch Organisationen kann man als Bauwerke betrachten, bei denen es auf Stabilität ankommt. Wichtige Stützen sind hier Menschen, und auch die kann man auf Biegen oder Brechen belasten, bis das Bauwerk eine andere Form bekommt.

Bis vor wenigen Jahren konnte man sich hier in Neukölln problemlos Pakete schicken lassen. Wenn man nicht zu Hause war, probierte der Paketbote es später noch einmal. Schlimmstenfalls klingelte er bei Nachbarn. In einem Haus, in dem dreißig Parteien wohnen, ist fast immer jemand zu Hause. Zwei Häuser weiter gibt es einen kleinen Laden, dessen Inhaber, ein Rentner, gerne Pakete für die ganze Nachbarschaft annimmt. Der Paketbote kannte die Nachbarschaft und fand immer einen Weg, das Paket zuzustellen.

Seit einiger Zeit funktioniert das nicht mehr. Der Paketdienst hat aus Instabilität eine andere Form bekommen. Man sieht zwar im Computer, dass der Zusteller unterwegs ist, aber man empfängt nichts. Auch keine Benachrichtigung. Die kommt erst am nächsten Tag mit der Briefpost, und darin steht, dass man sein Paket auf der Post abholen muss. Das bedeutet entweder einen Fußmarsch von vier Kilometern: einen Kilometer nach Norden, dann einen Kilometer nach Osten den Abhang hinab, eine halbe Stunde Schlange stehen bei der Post und mit dem Paket wieder zurück. Das Paket ist sperrig und schwer, und man kann sich einreden, dass diese Aktion romantisch ist. Eine noch romantischere Alternative bietet der öffentliche Nahverkehr: vierhundert Meter gehen, eine Station mit der S-Bahn, umständliches und weitläufiges Umsteigen an Bettlern und Taschendieben vorbei in die immer überfüllte U-Bahn, zwei Stationen weiter zur Post, anstellen und den gleichen Weg zurück. Wenn das Paket schön sperrig ist, erlebt man authentische Beispiele von Berliner Schnauze.

Dass es so läuft, hat natürlich mit fehlender lokaler Integrität zu tun. Die wichtigsten Stützen des Paketdienstes, die menschlichen Zusteller, sind nicht mehr durchdrungen vom Ziel ihrer Organisation: dass die Pakete beim Empfänger ankommen müssen.

Heute wurde in den Nachrichten deutlich, wie das kommt. Die Zusteller sind ihrer Belastung nicht mehr gewachsen, und die Weise, wie sie ihre Pflicht erfüllen, wird krumm. Ihr Ziel ist nicht mehr, das Paket zuzustellen, sondern es so schnell wie möglich ohne Regelverstoß loszuwerden. Statt länger in der Nachbarschaft herumzuklingeln, fahren sie lieber ihre ganze Ladung direkt zur Post und verwenden ihre Zeit zum Adressieren von Umschägen für die Benachrichtigungen statt zum Treppensteigen.
Man kann es ihnen nicht verübeln.

Die Zusteller werden schlecht bezahlt und haben zu wenig Zeit. Sie werden oft in wechselnden Gebieten eingesetzt, wo sie die Möglichkeiten nicht kennen. Sie haben immer weniger Gelegenheit, ihren Lieferwagen ordentlich zu parken und stehen unter ständigem Stress. Wie sie ausgebildet werden, kann man hier nachlesen. Da kann es passieren, dass der Zusteller nicht beweisen kann, dass er an einem Blechschaden unschuldig ist oder bei welchem Nachbarn genau er das Paket abgeliefert hat. Das ist schon schlimm genug für die Motivation der Zusteller. Aber seit heute wissen wir, dass noch etwas hinzukommt: die Post macht sie systematisch regresspflichtig, indem sie die kleinsten Unregelmäßigkeiten als „grobe Fahrlässigkeit“ verfolgt.
Schadenersatz, den die eigenen, überlasteten Mitarbeiter bezahlen, ist anscheinend inzwischen zu einer wichtigen Einnahmequelle der Post geworden.

Hieraus können Sie lernen. Wenn Sie in so einem Fachwerkhaus wohnen, in dem sich die Balken biegen, machen Sie die Balken regresspflichtig! Hobeln Sie einfach die entsprechende Menge Holz ab, um den Kamin zu feuern!

Die BVG hat noch nicht entdeckt, dass auch ihre Busfahrer Goldminen sind. Man braucht sie nur für erhöhten Kraftstoffverbrauch beim fahrlässigen Stehen im Stau regresspflichtig zu machen. Bitte erzählen Sie das nicht weiter!

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