Direkte Wege

In ihrem letzten Stück ist sich die Neue Friedrichstraße noch am ähnlichsten. Dort hat sie vorher „Hinter den Baraquen und Casernen“ geheißen, noch früher „Gouverneurs-Straße“ und „Bei der Pomeranzenbrücke“: alles Namen, die uns sagen, was hier los war oder eben nicht. Seit 1951 heißt dieses Straßenstück Littenstraße nach einem aufrechten Mann. Seine Söhne, die damals in der 68er Studenten-Bewegung mitspielten, konnten stolz auf ihren Vater sein. Das können in dieser Generation nicht viele Deutsche. Litten war Rechtsanwalt. Er ist nur 35 Jahre alt geworden. Weil er seinen Beruf ernstgenommen hat, haben ihn seine Landsleute 1938 in Dachau ermordet. Der Straßenname bringt es vielleicht zustande, dass gelegentlich einer seiner heutigen Juristen-Kollegen an ihn denkt, wenn er an seine Arbeit geht (und Folgerungen aus dem Andenken zieht: aber welche?). An den Kollegen Paul Meyer wird kaum noch jemand denken im Gerichtsgebäude an der alten Neuen Friedrichstraße. Für die kurze Weile dieser Sätze rufe ich den Justizrat herauf von den Schatten:
1891 erhielt Fontane den Schillerpreis (vor ihm hatte ihn Wildenbruch erhalten, der ihn auch nach ihm wieder erhielt), im Jahr darauf machte er sein Testament; es musste im Gericht in der Neuen Friedrichstraße beglaubigt werden; der Notar Meyer begleitete den Schriftsteller. Sie mussten auf dem Gang warten. Der Vertreter des Amtsrichters, ein junger Mann, Assessor oder Referendar, kannte den Schriftsteller nicht, ließ sich den Namen buchstabieren. „Juristen lesen keine Romane“, sagte der Justizrat zu Fontane, als sie wieder draußen waren in der frischen Luft der Neuen Friedrichstraße. „Halb wehmütig, halb erheitert durch diesen Beweis für seine Popularität, sah mich der Dichter an.“ Justizrat Meyer selbst las Romane. Er ist 1935 gestorben. Da war sein Kollege Litten schon verhaftet. Ihm selbst, dem Anwalt Fontanes, war die Zulassung zu deutschen Gerichten entzogen. Sein Neffe, Hans Stemheim, der die Anekdote über die Testaments-Registrierung aufgeschrieben hat, in der Fontane schließlich über sein ganzes Werk sagt: „Was soll der Unsinn?“, ist von seinen Berliner Landsleuten nach Auschwitz gefahren und dort ermordet worden. Neue Friedrichstraße: Von Fontane nach Auschwitz.

Berlin ist eine unheimliche Stadt. Wo man ein bißchen am Sichtbaren ritzt, tritt das Furchtbare ans Licht, das uns bis in die Träume ängstigt. Die Stadt steht auf unsicherem Boden. Es gibt keine Sicherheit hier; was geschehen ist, kann wieder geschehen. Während ich die Justizbeamten beobachte, die den Gerechtigkeits-Palast schon vor Ende der Dienstzeit eifrig verlassen, denke ich an jenen Hans Sternheim. Er war Fontanes Patenkind. Seine Mutter war Marie Sternheim, eine Freundin von Fontanes Tochter. Fontane hat sie noch zwei Tage vor seinem Tode gesehen und sich an ihr gefreut. Fontane nennt sie „so ziemlich die normalste, angenehmste und liebenswürdigste Frau, die ich kenne.“ Dieser sympathischen und Sympathie erzeugenden Bemerkung fügt der große Schriftsteller und Epochenkenner einen Satz hinzu, über den wir nachzudenken haben, weil wir das Ende in Auschwitz kennen: Fast sei es so, sagt er, als ob bei der angenehmen Frau Sternheim „das Altmärkische, das ich sehr hoch stelle, das Jüdische wohltuend beeinflusst und doch die guten Judenzeiten bei Kraft und Lehen erhalten hätte“ (24.11.1891). Wie man es auch dreht und wendet: Das ist eine Bemerkung, der im untersten Untergrund Rassismus und Antisemitismus zugrunde liegt. So haben Zelter und Goethe über Mendelssohns gesprochen. Es führt ein direkter Weg aus der deutschen Geistesgeschichte nach Auschwitz.

Ich blicke zum ehemaligen Dienstzimmer des Präsidenten Töplitz hinauf. Es kennt ihn keiner mehr. Der Mann ist auch in die Geschichte versunken wie das ganze Oberste Gericht der DDR. Dafür ist die Zeit nicht, das aufzuarbeiten. Könnten wir statt dessen versuchen, gemeinsam mit dem Nationalsozialismus fertig zu werden und mit dem Nationalismus, den manche schon wieder entdecken wollen als die Weltanschauung von morgen? Ich gehe weiter an der Mauer entlang, die die Littenstraße von der Waisenstraße trennt. Es gibt so viele Mauern in Berlin. Sichtbare und unsichtbare. Hier – um die ehemalige Klosterkirche – begann das „alte Berlin“, das Berlin „vor dem Sturm“, vor den Umgrabungen, die die französische Revolution verursachte, die mit kaiserlich französischen Truppen hier einmarschierte (und diese Franzosen waren tatsächlich oft Deutsche). Die evangelische Parochial-Gemeinde, zu deren Gemeindehaus hier ein schönes Tor führt, kündigt ein Benefizkonzert an für die „Opfer des Stalinismus“: in der Neuen Friedrichstraße liegt immer noch alles nebeneinander.
Am Ende der Neuen Friedrichstraße residiert heute die GASAG. Um das Haus läuft ein Fries mit Köpfen, die aus der Mauer blicken, als ob sie alle Cäsaren gewesen seien. Ich kann die Stelle noch ausmachen, an der die Waisenbrücke, die fort ist wie die Neue Friedrichstraße, über die Spree führte. Zwei Angler stehen dort. „Wir müssen nichts fangen“, sagt der Ältere. „Man angelt, damit man nicht zu Hause sein muss.“ Ein Stück weiter unten, in dem Schaukasten, der die Geschichte der Schleusen erläutert, steht: „Du hast ja keine Ahnung, wie schön du bist, Berlin“.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

print

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*