Haus Doorn

550 km. Warten auf den Tod

Wenn das Licht der Aufklärung, Toleranz, Kultur und Wissenschaft für Brandenburg und damit für Preußen im Haag angezündet wurde, wurde das Licht des preußischen Königtums und des Deutschen Kaiserreiches im nahegelegenen Doorn endgültig ausgeknipst.

Kaiser Wilhelm II. hatte von allen preußischen Königen wohl die meiste Macht und das größte Land. Konstitutionell kam ihm nicht einmal so viel Macht zu – es gab ja auch noch den Reichstag und den preußischen Landtag – aber man gestand sie ihm zu. Er gebrauchte sie nicht gut. Er war wohl 1914 gegen einen Krieg, verhinderte ihn aber nicht, sondern führte sein jubelndes Volk in einen unvorstellbaren Weltkrieg.

Als der verloren war, wollte er an der Spitze seiner besiegten Truppen in Berlin einziehen. Man erklärte ihm, dass es kein Kaiserreich mehr gebe. Dann eben als König von Preußen; eine dem Anlass angemessene graue Uniform hatte er sich schon schneidern lassen. Man erklärte ihm, dass dem König von Preußen niemand mehr folgen würde.

Er hätte natürlich im Kampf fallen können. Der von ihm bewunderte Friedrich der Große hatte dazu ja immer wieder das Schicksal herausgefordert. Der erste Diener des Staates war nicht nur Feldherr, er war auch Anführer und Vorbild seiner Soldaten in vorderster Front. Wilhelm aber, der sich in Friedenszeiten dauernd auf Manövern fotografieren ließ, war im Krieg gut geschützt in seinem Hauptquartier geblieben und hatte überlebt. Langsam drang zu ihm durch, dass die Alliierten ihn als Kriegsverbrecher vor Gericht stellen wollten.

Nur wenige Tage vor der Kapitulation hatte er einen neuen Adjutanten erhalten, den jungen Sigurd von Ilsemann. Der hatte so eine Ahnung, dass er historisch interessante Dinge in nächster Nähe erleben würde, und fing einfach einmal an, Tagebuch zu führen. Dass er das bis 1941 machen würde, ahnte er damals bestimmt noch nicht.

Auf den ersten Seiten des Tagebuches lesen wir, wie der Entschluss reifte, aus dem Hauptquartier im Belgischen Spa in die nahegelegenen, neutralen Niederlande zu fahren und dort um politisches Asyl zu bitten. Königin Wilhelmina war ja immerhin eine Verwandte. Wir lesen auch, auf welch merkwürdige Weise diese Flucht verlief. Der Kaiser konnte und wollte ja nicht auf seinen Hofzug verzichten; aber der würde leichte Beute für die Alliierten und für Attentäter sein, also wurde er leer über die belgisch-niederländische Grenze geschickt, wo er im Grenzbahnhof Eijsden, ein paar Meter auf niederländischem Hoheitsgebiet, auf den Kaiser wartete. Der konnte mit seinem Gefolge nur im Hofauto reisen. Weil auch das eine leichte Beute gewesen wäre, hatte man die Wappen auf den Türen mit Schlamm unsichtbar gemacht und fuhr nachts ohne Licht. Man fühlt sich an kleine Jungen erinnert, die Räuber und Gendarm spielen, aber dann standesgemäß und mit Autos und Eisenbahnen im Maßstab 1:1.

Auf einmal standen da also im Morgengrauen einige rauchende Herren neben dem Hofzug. Ein Student, der gegenüber aus dem Fenster schaute, hatte so eine Ahnung und machte ein Foto.

Damals wohnten Bahnhofsvorsteher noch im Bahnhofsgebäude. Der in Eijsden schaltete schnell und berief sich auf Dienstvorschriften. Bevor der Fahrdienstleiter hier sei, dürfe einfach kein Zug abfahren, das müssten Preußen und vor allem der aller Technik sehr zugeneigte Kaiser doch verstehen. Man verstand und rauchte weiter. Das gab dem Bahnhofsvorsteher die Gelegenheit, mit dem Haag zu telefonieren und die Regierung zu benachrichtigen. In drei Stunden, deren Hektik man im fernen Eijsden nicht spürte, einigten sich Kabinett und Königin darauf, dem Kaiser, der sein Reich verloren hatte, tatsächlich Asyl zu gewähren und ihn zunächst provisorisch bei einem entfernten Verwandten in Amerongen unterzubringen. Wilhelmina legte Wert darauf, dass sie persönlich nichts mit ihm zu tun bekam. Von Amerongen aus wurde eine Immobilie für einen dauerhaften Aufenthalt gesucht und gefunden, was lange dauerte, und entsprechend umgebaut, was ebenfalls lange dauerte. An der Grundstücksgrenze zur Straße ließ der Kaiser, wie ihn immer noch alle nannten, ein Torgebäude im Stil der Berliner Oberbaumbrücke errichten, das weder zum alten Hauptgebäude noch in die neue Zeit noch so recht zu den Niederlanden passt. Gleichzeitig zogen sich in Deutschland die Verhandlungen über das Eigentum der Hohenzollern hin. Gleichzeitig entstand die Weimarer Republik.

Von Ilsemann erkennt und beschreibt genau, wie und warum es nun mit den Hohenzollern und Deutschland bzw. Preußen vorbei ist. Wenn Preußen als Königreich weiterbestehen sollte, dann nur unter einem König Wilhelm II. Der könnte zwar abdanken und den Thron für seinen ältesten Sohn freimachen, aber frühestens in dem Moment, in dem er wieder Monarch wäre. Die Thronfolge ist nun einmal eindeutig geregelt und lässt keinen Raum für Wünsche oder Ergebnisse eines Familienrates. Diese unverbrüchliche, nicht verhandelbare Kombination von Hohenzollerschem Hausgesetz, Gottesgnadentum, Erbfolge und noch geltenden staatlichen Gesetzen nennt er das Legitimationsprinzip. In gewissen Scheichtümern sieht man, was ohne ein solches Prinzip geschieht.

Das hieß aber: Solange dieser Wilhelm II. lebt, wird es keine Mehrheit für ein Königreich Preußen geben. Und je länger er lebte, desto unmöglicher machte sich sein ältester Sohn. 1918 war es darum definitiv vorbei mit dem Kaiser- und Königreich und mit der Sonderstellung der Familie Hohenzollern. Das Einzige, was noch geschehen musste, war, das Eigentum aufzuteilen zwischen Staat und Familie.

Das Resultat waren viele Millionen Mark für den Ex-Kaiser, zwölf der über siebzig Schlösser und neunundfünfzig Güterwaggons voll persönlicher Habe.

Wenn Sie umziehen, wird der Umzugsunternehmer ermitteln, wie viele Kartons Sie nötig haben. Wenn Sie viele Bücher besitzen, könnten das neunundfünfzig werden. Kartons. Der Umzug von Preußen nach Doorn erforderte neunundfünfzig Eisenbahnwaggons.

Aus drei Gründen müssen Sie Haus Doorn besuchen!

Erstens kann man dort lernen, wie ein Schloss funktioniert. Das Hauptgebäude hat in zwei bewohnbaren Stockwerken nur 16 relativ kleine Räume, aber der Kaiser lebte darin wie in einem großen Schloss. Also gibt es einen Flügel mit Privaträumen für den Kaiser, einen für die Kaiserin. In jedem gibt es ein Einpersonenschlafzimmer, ein Badezimmer und Räume, in denen man privaten Besuch empfangen oder mit Hofdamen herumsitzen kann. Dazu dann gemeinsame, repräsentative Räume, also Vestibül, Speisesaal, Empfangszimmer. Anders als bei Friedrich dem Großen gibt es keinen Musiksaal, und für einen Tanzsaal war weder Platz, noch war jemandem danach zumute.

So leicht wie in Doorn können Sie sich in keinem anderen Schloss einen Überblick verschaffen, wie höfisches Leben funktioniert und sich über verschiedene Räume aufteilt.

Zweitens lernt man dort viel über den Menschen Wilhelm II., seine erste und zweite Frau und deren Verwandten. Denn alles ist noch so eingerichtet wie im Moment des Todes des Hausherrn, einschließlich aufgeschlagener Zeitschriften auf Nachtschränken, Bettwurst, künstlichen Gebisses und Haaren in Haarbürsten auf Garderobentischen. Hier kommt man Menschen sehr nahe, vielleicht zu nahe, die zwei Jahrzehnte eigentlich nur auf den Tod warteten. Alle Einzelheiten dazu liest man in von Ilsemanns Tagebüchern.

Drittens aber ist dieses Haus eine einzigartige Museumslandschaft. Der ex-Kaiser hatte nämlich so viel wie nur eben möglich vom Inhalt der neunundfünfzig Waggons in allen Räumen aufgestellt. Es gibt keine handtellergroße Fläche, wo nicht ein Erinnerungsstück aufgestellt ist, kein Stück Wand, wo nicht ein Bild hängt. Die Bewohner hatten sich so dicht wie möglich mit ihrer ganzen Vergangenheit umgeben, darunter wertvollste Gemälde, Originalmöbel aus Sanssouci und anderen Schlössern, altes Porzellan, aber auch reiner Kitsch. Neben den Rokoko-Schnupftabaksdosen Friedrichs II. steht dieser Friedrich als Rauchverzehrer! Und weil der verehrte Friedrich Schnupftabaksdosen sammelte, sammelte der mit der Zeit gehende Kaiser Zigarettenetuis. Das Haus birgt also auch ein Zigarettenetuimuseum für den Zeitraum bis 1941. Auf dem Dachboden und im Torgebäude steht noch viel mehr. Das kann man leider nicht besichtigen.

Nennen Sie irgendein Thema zu Kultur, Geschichte, Wirtschaft oder was auch immer, und man könnte in Haus Doorn eine Exkursion von zwei Stunden zu diesem Thema veranstalten. Es gibt wohl keinen Ort in Europa, an dem durch jeden Kubikmeter so viele historische Linien laufen wie hier. Am stärksten vertreten sind in fast allen Räumen Friedrich der Große und Königin Luise. Von Friedrich Wilhelm I. dagegen sieht man nichts. Von ihm haben sich keine persönlichen Gegenstände erhalten.

Göring war zweimal dort. Wilhelm verachtete ihn, und es heißt, dass er nach dem zweiten Besuch den Stuhl verbrennen ließ, auf dem der Generalfeldmarschall gesessen hatte. Von ihm ist also wenig übrig, nur Fotos von der Beisetzung des Hausherrn, die die Nazis organisiert hatten.

Warum ist uns Haus Doorn mit all seinem Inhalt bis heute bewahrt geblieben? Erstens, weil Wilhelm es testamentarisch so wollte. Zweitens, weil alles dem Königreich der Niederlande gehört. In Doorn steht so viel herum, dass man damit sämtliche Berliner und Brandenburger Schlösser wohnlich machen könnte, doch das geht nun einmal nicht. Diese Schlösser ähneln den Körpern der Habsburger: der Inhalt wird andernorts aufbewahrt.

Das Ende vom Ende jedenfalls spielte sich wie der Anfang vom Anfang jahrelang in den Niederlanden ab.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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