Der eine schneller, der andere langsamer

Ich kam am 1. April 1933 nach Berlin, um eine Stelle als Arzt in der Charité anzutreten. Ich hatte in München mein Examen gemacht. Die Berliner Charité suchte Ärzte, weil jüdische Kollegen gekündigt worden waren. In meinem Freundeskreis hatte man mir schwere Vorwürfe gemacht: „Du übernimmst diese Stellung?“ Aber es war noch die Zeit der Arbeitslosigkeit, und ich musste mich schnell entscheiden. Man hätte die Stelle auf jeden Fall sofort besetzt.
Ich bin nicht weitergegangen. Viele andere haben noch einen Schritt und noch einen Schritt weiter getan. Dann waren sie plötzlich bei den Nazis. Ich wusste, dass man jeden Schritt, den man riskiert, prüfen muss. Aber immer muss man etwas riskieren.
In Berlin merkte ich sofort, dieser „Umbruch“ machte tatsächlich einen krassen Unterschied. Nicht nur am Theater, wo man plötzlich immer Karten bekam, weil die Zuschauer fehlten. Das Niveau war, bei dem Exodus so zahlreicher jüdischer Wissenschaftler und Künstler, allgemein viel schlechter geworden. Aber vor allem hat die Angst … die Angst regiert.

Oder auch: das „Blut- und Boden“-Gerede war nicht echt. Manches in dieser Richtung konnte sicher als ein Zeichen von Gesundung verstanden werden. Aber „Die deutsche Frau schminkt sich nicht!“ zum Beispiel passte einfach nicht zur Mentalität unseres Volks. Auf gewisse morbide Tendenzen hatte „Blut und Boden“ eine Antwort vorgegaukelt und deswegen auch eine gewisse Anziehungskraft gehabt. Aber es stellte sich heraus, dass das Echte daran nur eine unwesentliche Komponente, keine Bewegung „Zurück zum guten Alten und Gediegenen“, sondern zur Verblendung war. So wurde viel echter Idealismus, zum Beispiel bei der Bündischen Bewegung, missbraucht. Einige Kollegen sind so zu den Nazis gelangt. Sie waren neo-konservativ, nicht stur-konservativ. Sie wollten nicht etwa das 3-Klassen-Wahlsystem wieder einführen, sie verlangten, ethische Prinzipien sollten überall eine höhere Rolle spielen, als das in der Spätzeit der Weimarer Republik der Fall war. Nach einigen Jahren waren sie völlig enttäuscht!

Die Weimarer Republik war dabei gar nicht so korrupt, wie das heute überall der Fall ist – aber der gesunde Teil des deutschen Volkes hat damals tatsächlich viel mehr an Erscheinungen von Korruption gelitten als heute, wo man sich daran gewöhnt hat. Ja, man kann das Aufkommen der Nazis und ihre Attraktivität während der ersten Jahre nicht nur erklären mit der furchtbaren Not der Arbeitslosen! Wenn man überhaupt bereit ist, wohlwollend zu untersuchen, warum so viele anständige Leute damals freiwillig zu den Nazis gegangen sind, dann muss man so etwas wie diese „Blut und Boden“-Phrasen mit anführen. Natürlich kommt noch der idiotische Versailler Vertrag hinzu, diese Deklassierung der Deutschen. Und dann eben diese Korruptionsfälle im Inneren, die die Öffentlichkeit um 1930 heftig bewegt haben. Böss, der Bürgermeister von Berlin: für irgendein Scheingeschäft hat er einmal einen Pelzmantel geschenkt bekommen. Die Empörung darüber ist nicht von den Nazis aufgebracht worden. Er war Sozialdemokrat, übrigens kein Jude. Der Prozess in dieser Sache – als „Sklarek-Prozess“ bekannt geworden – war den Nazis nur ein willkommener Anlass, die Empörung antisemitisch zu steuern! Es gab in Berlin, Frankfurt und Breslau eine relativ große jüdische Oberschicht. In der Zeit nach dem ersten Weltkrieg kamen viele jüdische Polen, Ungarn, Ukrainer hierher, die ungebildeter, ärmer waren. Heute würde man das als „Ausländerproblem“ bezeichnen. Damals waren es die „Ostjuden“. Sie wirkten auch viel jüdischer. Sie waren die Demonstrationsobjekte für Antisemitismus – sehr viel mehr als die alteingesessenen jüdischen Schichten. So kam eines zum andern. Historische Wenden sind immer vielfältig bedingt. Man darf nicht nur eine Ursache sehen, wenn man sich zurechtfinden will.

Ich befreundete mich nur mit Leuten, die gleich dachten. Ich wurde aus Wut Anti-Nazi. Ich war nicht allein damit. Wenn beispielsweise im Theater „Don Carlos“ gespielt wurde: die Schauspieler haben die Stelle „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ so gesprochen, dass es jedes Mal zu donnerndem Applaus, zu Beifall mitten in der Szene kam. Das war eine öffentliche Schulung, mit dem Ergebnis, dass jeder heller wurde, dass sofort erfasst wurde, was Doppelsinn, was Hintersinn ist. Die Witze, die der Kabarettist Werner Finck in seinen Vorstellungen machte, wurden sofort weitererzählt, das war auch ein Teil dieser Schulung. Karl Valentin war einmal in Berlin. Plötzlich ließ er es in seiner Aufführung vollkommen dunkel werden. Dann sagte er leise in die Dunkelheit hinein: „Das muss an der Leitung liegen!“ Jeder lachte, und trotzdem war diese Doppeldeutigkeit für den Gegner nicht zu fassen. In solche Aufführungen gingen sogar SS-Leute. Sie haben sich ebenfalls amüsiert. Sie durften es, so wie ja auch Pfarrer gelegentlich anti-klerikale Witze erzählen dürfen.
Noch im April sagten mir Freunde, ich sollte unbedingt in einen SA-Sturm gehen in der und der Kneipe am Nollendorfplatz. Ich ging hin. Dort versammelten sich Kommunisten und Sozialdemokraten, um gegen die Nazis schimpfen zu können. Zur Tarnung taten sie Bier saufen. Zuerst dachte ich, es könnte einen Sinn haben, wenn man dabeibliebe, unterschrieb aber nichts. Aber natürlich, stellte sich heraus, war unter diesen etwa 100 Leuten ein Spitzel. Es dauerte nur ein paar Monate. Von vorneherein war diese Sache politisch zum Tode verurteilt. Man konnte sich eben nicht innerhalb dieses Systems eingraben. Sie dachten dort, wenn man nach außen zum Schein mitbrüllt, könnte man neue Anti-Nazis sammeln. Der SA-Sturm flog auf.
Eigentlich kam jeder einmal in die Versuchung, mit gutem Vorwand zum Schein mitzumachen. Obwohl Hitler doch ziemlich schnell gehandelt hat, geschah dieser Überraschungsangriff auf das deutsche Volk im ganzen doch noch zu langsam, um die Herausbildung falscher Hoffnungen zu verhindern. Hitler würde es finanziell nicht lange durchhalten, die Alliierten würden bald eingreifen, die Reichswehr würde eingreifen. Gerade wenn man einen Wahnsinn anrollen sieht, produziert man viele angenehme Hoffnungen. Insofern ist es im Prinzip auch richtig, wenn man heute sagt, man habe alles erst so nach und nach mitbekommen. Da ist natürlich der eine schneller, der andere langsamer.
Aber im Februar 33 der Reichstagsbrand, ab April der Judenboykott… die Brutalitäten bei der Verfolgung von Oppositionellen – das hatte nicht gereicht? Es war eine Mischung von „Vor-den-Kopf-geschlagen-sein“, Ohnmacht, Verständnislosigkeit und Warten auf das politische Wunder, auf den Staatsstreich durch die Reichswehr! Wer hatte denn Macht? Das Offizierskorps, die katholische Kirche, die ihren Mitgliedern ja Anpassung empfohlen hatte. Dann kam natürlich noch das riesige Unglück dazu: der Kampf zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, die gemeinsam natürlich den Generalstreik hätten ausrufen können! Die Feinde Hitlers, Sozialdemokraten, Kommunisten, das liberale Lager, beide Kirchen, die jüdischen Organisationen: überschlagen war das die Hälfte des deutschen Volkes.

Ich habe also die Konsequenz gezogen. Ich habe mich, das war ein bewusster politischer Akt – und auch der einzige in diesen ersten Jahren der Nazi-Diktatur – jedem Kontakt mit einem Nazi entzogen und Antinazis… eigentlich immer gesucht. Mein Motiv war zunächst Verachtung, gegen die Schwindler. Außerdem war es dringend ratsam für mich: Ich war gegen die Nazis, wollte aber meine Meinung immer noch frei äußern. So durfte ich nicht mehr mit Nazis verkehren, so gebot es die reine Selbsterhaltung, mit Antinazis zu reden. Ich suchte ständig Leute, die meiner Meinung waren, und alle Antinazis waren ja froh, wenn sie jemanden kennenlernten, der sie in ihrer Abneigung bestärkte. Das war wie eine geheime Genossenschaft, eine geheime Verbrüderung!
Grad als die Deutschen in Österreich einmarschiert waren, besuchte ich eine Tante, eine einfache Bäuerin. Ich sagte zu ihr: „Die Österreicher haben sich ja nun auch freiwillig mit uns vereint!“ Da antwortete sie klar und krass: „Einmarschiert samma halt, weil wir die Stärkern sind!“ Sie hat also ganz klar gedeutet, dass es nicht stimmte, was die Nazipropaganda verbreitete. Und von diesem Moment an, da man riskiert hatte, offen zu sein, kam echte Freundschaft. Denn das Glück, Gesinnungsgenossen zu haben, hat ja alle Not, alle Unterdrückung so erleichtert!

1938 suchte ich eine Stelle als Arzt in Mühlhausen in Thüringen. Ich war eines Abends bei einem Chirurgen eingeladen. Wir merkten, dass wir beide das Dritte Reich ablehnten. Er hat mich schnell ins Vertrauen gezogen. Er zeigte mir die chirurgische Abteilung seines Krankenhauses. Dort lag der Rabbiner des Ortes. Der oberste Nazi des Ortes hat sich in jener furchtbaren Nacht 1938 vor diesen Rabbiner hingestellt und ausgerufen: „Im Namen Adolf Hitlers richte ich dich hin!“ Er schoss einen Schuss auf ihn. Der Mann brach zusammen. Er kam ins Krankenhaus, der Chirurg versorgte ihn. Er hatte Glück gehabt. Er trug eine Taschenuhr, eine solide, gediegene; die war völlig zertrümmert worden, aber die Kugel war nicht bis zum Herzen vorgedrungen. Der Rabbiner lag verschüchtert in seinem Bett, sowohl von den Pflegern als auch von den Ärzten korrekt behandelt. Der Chirurg zeigte ihn mir, um seine Empörung mitzuteilen.
Wie haben Sie zum Beispiel in diesem Fall sich beide als Antinazis entdeckt?
Solche Erkennungszeichen zu senden und sich dem Problem zu stellen, sie richtig zu deuten, gibt es auch zwischen Mann und Frau. Die Zeichen, die das andere Geschlecht gibt, sind doch auch sehr diskreter Art. Im Laufe der Zeit bekommt man Übung, sie zu deuten. Übung, diskrete Aufforderungen zu verstehen! Eine Frau sagt selten: „Bitte, kommen Sie auf mein Zimmer!“ Stattdessen gibt sie leise doppeldeutige Hinweise. Und der andere erkennt den Sinn. (Oft verkennt er ihn natürlich.) Es ist aber auch Instinktsache zu erkennen, ob der andere schwindelt. An vielen Beispielen kann man sehen, dass dieser Instinkt weit verbreitet ist. Auf eine Hure z.B. fällt man seltener herein. Die Hure sagt etwas gefühlsmäßig Unechtes. Sie ist ein Spitzel der Liebe, die das diskrete Zeichen für ihre Zwecke missbraucht. So hat auch die Polizei wenig Erfolg im Spionieren, weil ihr diese Intuition fehlt. Dem berufsmäßigen Spitzel fehlt das Einfühlungsvermögen in die Sphäre der Diskretion, des Doppeldeutigen. Ohne Gefühle können Sie nicht viel herauskriegen… Das ist heute bei uns überhaupt ein allgemeines Problem geworden. Wenn heute unter den meisten Menschen ein Verkehrston existiert, dieser korrekte, oberflächlich durchaus funktionale Ton, wird die Kunst des doppeldeutigen, diplomatischen Gesprächs nicht gefördert. Manches geht dabei kaputt. Die vielen, die Sehnsucht nach etwas haben, zu dessen Erfüllung sie jemanden brauchen, der die gleiche Sehnsucht hat, verlernen es, sich zu finden. Natürlich, wenn alle Menschen wirklich die gleichen Voraussetzungen in ihrem Leben geniessen könnten, gäbe es auch keine Notwendigkeit, sich doppeldeutig auszudrücken. Das kann man heute in Ostberlin studieren. Wenn in diesem Staat wirklich alle eins wären, dann entfiele das Zweideutige. Aber man kann doch erleben, wie Ostberliner diplomatisch reden und sich doch verstehen! Also, es geht beim Erkennen des Gesinnungsgenossen in einer Diktatur, die diese Gesinnung verbietet, immer darum, sich niemals eine Blöße zu geben und doch was zu sagen! Der Agitator muss sich ja Blößen geben, wenn er auf Massen einen Einfluss ausüben will. Sicher müssen auch Lehrer ganz offen sein. Aber wer im Untergrund lebt, muss – wie beim Klettern – jeden Schritt prüfen. Wenn er also sprechen muss, dann mit einem Instinkt für die Echtheit von doppeldeutigen Äußerungen. Menschen zu beurteilen ist immer eine Frage innerer Freiheit und Sicherheit.

Ein Vetter von mir – als Gegenbeispiel – war in die NSDAP eingetreten, um besser Notar werden zu können. Aber er war ein strikter Antinazi. 1932, bei einem Gerücht, das er aufschnappte, Hitler sei ermordet worden, ist er sofort aus der Partei ausgetreten. Später hat er sich wieder gefügt und war fast sprachlos geworden. Von da an hat er nur noch nachts bei seiner Frau auf die Nazis geschimpft. Der hat Widerstand geleistet im Bett, im Ehebett! Natürlich, manchmal war es eine Pflicht, sich zu tarnen. Aber aus der massenhaften Tarnung heraus war es schwer für den Durchschnittsmenschen zu widerstehen. Die intellektuelle Fähigkeit, etwas zu durchschauen, aber auch der Charakter eines Menschen waren entscheidend.
Ich wohnte in einem kleinen Dachzimmerchen in der Charité. Ich bildete mich fachlich aus, hielt Augen und Ohren offen, in meiner Freizeit trieb ich regelmäßig Sport. Ich war ein begeisterter Bergsteiger, aber ich radelte auch, bin geschwommen und Ski gelaufen. Im Sommer war ich bei meinen Verwandten in Bayern auf dem Land und half ihnen in der Landwirtschaft.
1935 heiratete ich meine erste Frau. Sie war Halbjüdin, formal als Vierteljüdin eingestuft. Wir hatten uns 1929 als Studenten kennengelernt. Natürlich war sie Antinazi. Man heiratete damals aus den gleichen Motiven wie heute, vielleicht war der Anteil romantischer Liebesempfindungen etwas größer. Aber als ich da im Vorfeld der Nürnberger Gesetzgebung das jüdische Mädchen heiratete, war mir völlig klar, dass diese Entscheidung mein weiteres Leben tief politisch beeinflussen würde. Wer unter den Nazis in eine jüdische Familie hineinheiratet, weiß das. Bei mir war es deshalb auch nicht nur die Romantik der Liebe, sondern auch der Trotz gegen Hitler. Die zu erwartenden beruflichen Einschränkungen waren etwas wie eine Herausforderung: wie lange hält das Dritte Reich!?

Damit zusammenhängend hatte ich nur einmal Auswanderungspläne. Nach der Nacht, die furchtbar war, war ich 1939 einmal für 14 Tage in London. Ich hatte die Adresse eines englischen Arztes:
„Ich würde gern in England bleiben.“
„Sind Sie jüdisch?“
„Nein.“
„Sind Sie Kommunist?“
„Nein.“
„Sind Sie sonst verfolgt?“
„Nein.“
„Haben Sie in Deutschland eine Arbeitsstelle?“
„Ja.“
„Dann bitte ich Sie, nehmen Sie keinem andern Deutschen den Platz hier weg!“
Mir war das unter diesen Umständen mittlerweile ganz verständlich geworden. Sonst aber hatte man zu dieser Zeit im Ausland die wirkliche Lage unter Hitler ebensowenig begriffen wie in den ersten Monaten im Inland.
Ich fuhr nach Berlin zurück. Ich war 34 Jahre alt.

Die große Auswanderungswelle kam erst nach 1938, nach dieser Nacht, die furchtbar war. Mein Schwiegervater kam ins KZ Oranienburg. Ich war schon einmal in einem Auto dort vorbeigefahren. Ziemlich nah am Zaun. Aber man hat nur den Drahtzaun und die Wachtürme gesehen. Nicht so perfektioniert, wie heute an der Zonengrenze. Mehr aus Holz als heute. Für meinen Schwiegervater, der, als er nach einigen Monaten entlassen wurde, nichts erzählen wollte, war schon das Appellstehen furchtbar. Zu allen möglichen Tageszeiten antreten. Ohne Möglichkeit, die Blase zu entleeren. Da sind ja die ersten tot zusammengebrochen, durch dieses furchtbare lange Stehen-müssen. Er hat von den verschiedenen Typen von Gefangenen erzählt und dass die SS duldete, wenn Berufsverbrecher die anderen noch zusätzlich tyrannisierten. Aber er hat keine Einzelheiten erzählt. Er war paradoxerweise bemüht, nur das Positive zu sagen. Also zum Beispiel, dass Unterhosen, die wir dort für ihn abgegeben hatten, wirklich in seine Hände gekommen sind.
Er war im Gegensatz zu allen seinen Geschwistern nicht zu bewegen auszuwandern. Später, 1943, hat er sogar noch einen komischen Prozess gewonnen! Er klagte nämlich vor Gericht auf Zurückzahlung der von ihm geleisteten sogenannten Judenbuße. Er hatte sich über Jahre mit diesem Prozess beschäftigt. Komisch, denn er konnte das Gericht glauben machen, dass einer seiner Vorfahren nicht ein Jude namens Hertz, sondern der Dichter Chamisso war! Es gelang ihm der Nachweis einer ehelichen Untreue in einem Badeort. Vor soundsoviel Jahrzehnten, konnte er nachweisen, ist da etwas passiert. Da so viele seiner vorgetragenen Indizien zusammenpassten, musste das Reichssippenamt anerkennen, dass ihm die Judenbuße fälschlicherweise abgenommen worden war, denn er war, laut Gerichtsbescheid, Jude zu weniger Bruchteilen, als man angenommen hatte. Er bekam im preußischen Sinne von Recht seine „Judenbuße“ zurück! Sehen Sie, das ist deutscher Konservativismus. Erst werden die Gefahren nicht gesehen, dann wird auf formale Korrektheiten gepocht.

Irrsinnige Kriterien hatten eine furchtbare Bedeutung. Das hört sich heute an wie ein Witz! Ob man ein Halb-, Viertel-, Achtel- oder Sechzehnteljude war, das war alles von großer, oft entscheidender Bedeutung! Ob einem Vorzüge zustanden, die genau geregelt waren, wenn man im ersten Kriege das Eiserne Kreuz hatte, aber keinen Fronteinsatz, oder Fronteinsatz, aber kein Eisernes Kreuz: auf die pedantischste Weise haben diese Dinge alle ihre Bedeutung gehabt. Und sie mussten umschifft werden.
Meine erste Frau hat die Zeit überstanden Sie war bei meinen Eltern in Bayern auf dem Land. Goebbels hatte die Evakuierung aller Frauen mit Kindern angeordnet, da kam sie relativ ungeschoren durch, wenn man es nicht unnötigerweise rum erzählt hat. Wir haben uns in den folgenden Jahren voneinander getrennt. Aber es war ja klar, dass eine Scheidung erst nach dem Krieg in Frage kam, da sie durch die „Mischehe“ mit mir eine sogenannte „Privilegierte“ war.
Die Verfolgung der Juden ist damals aber nicht so wahrgenommen worden wie Aufrüstung und Kriegsvorbereitungen. Es war allgemein klar, dass Hitler nach München 1938 nicht etwa gesättigt war. Es kursierte der Witz: „Ein Arbeiter hat eine neue Stellung, wo er Kinderwagen herstellt. Einem Freund bringt er Einzelteile aus der Fabrik mit. Nach einer Weile sagt der Freund: Vielen Dank für die Teile, aber ich bin wohl zu dumm, sie zusammenzubauen. Immer wird ein Maschinengewehr daraus.“
Es war das oberste Ziel, nicht eingezogen zu werden bzw. nicht an die Front zu müssen. Im Frühjahr 1939 bin ich deswegen von der Charité weg, um eine Stellung in einem „kriegswichtigen“ Unternehmen zu übernehmen. Ich arbeitete bei Schering, in einer medizinisch-wissenschaftlichen Abteilung, wo nur Anti-Nazis saßen. Sie waren alle irgendwo rausgeflogen, mussten sich schützen, einer war früher bei der KPD, einer hatte eine jüdische Großmutter, alle hatten sie einen „Webfehler“. Es war eine Insel! Dafür sorgte der betreffende Abteilungsleiter. Ja, das war möglich.

Walter Seitz
Aus: Klettern in der Großstadt (1981)

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